Britpop-Solo von Richard Ashcroft

Schönes neues Einzelgängertum

Verwirrung, Tod, Einsamkeit: Tiefer seufzen mit Richard Ashcroft.

Es ist noch gar nicht lange her, da wandelte ein barfüßiger, obdachloser, drogenverstrahlter Richard Ashcroft durch ein englisches Kaff namens Wigan. Er hatte kein Geld, er war verzweifelt und wenn er auf eine Scherbe trat, merkte er es nicht mal mehr: Das Leben war ohnehin schmerzhaft genug. Das ist lange her. Heute - knapp fünf Jahre später - hat er eine Frau, die ihn liebt, einen Sohn, ein gregorianisches Landhaus in der Nähe von Bristol, die eine oder andere Million auf dem Konto, und ganz nebenbei ist er noch einer der coolsten Popstars, die übers Erdenrund slackern.

Danke. Danke an wen auch immer, dass es Richard Ashcrofts Schicksal nicht hatte sein sollen, uns den Rest seines Lebens stinkende Räucherstäbchen, mieses Hasch oder schlechte Trips zu verkaufen, was wahrscheinlich die durchschnittliche Resozialisierungs-Erwartung für obdachlose englische Hypersensibelchen mit Hang zum Übersinnlichen ist. Danke. Lieber kaufen wir ihm aufs Neue ein knappes Dutzend Songs ab, die uns alle trauriger und dadurch glücklicher machen.

Seit einigen Jahren wird man nun schon von der Britpop-Bagage verfolgt, die Protagonisten sind immer noch dieselben Jungs, die in Wirklichkeit längst Männer sein sollten: Noel und Liam Gallagher von Oasis, Jarvis Crocker von Pulp, Damon Alburn von Blur. Abwechselnd hauen sie sich auf die Fresse und schaukeln sich die Eier, während es Kokain schneit. Die besten Egozentriker kommen in die Jahre, machen mal mehr, mal weniger gute Alben und verwandeln sich dabei in ihre eigenen Karikaturen. Und Richard Ashcroft, Sänger der mittlerweile aufgelösten Band The Verve, ist mit von der Partie. Richard Ashcroft, der derzeit überall verkündet, sich mit 28 Jahren schon dreimal so alt zu fühlen. Zwischen den anderen Haudegen repräsentiert er den vom Schmerz aus der Bahn geworfenen Künstler, gezeugt im 19. Jahrhundert, wiedergeboren im Hier und Jetzt und davon gründlichst verwirrt. »Mad Richard«, wie ihn seine Fans ehrfürchtig und anerkennend titulieren. Und es scheint, als schmeichelte ihm das auch noch. Beschwert hat er sich darüber bis jetzt noch nicht.

Schönes neues Einzelgängertum. »Alone With Everybody« heißt Ashcrofts erste Solo-CD nach knapp zehn Jahren mit The Verve. Leider kann auch an dieser Stelle nicht eindeutig berichtet werden, warum Ashcrofts Band sich vor gut einem Jahr auflöste. Die ehemaligen Bandmitglieder schweigen sich darüber aus, und auch die Reporterin von The Face stocherte zwar in tagelangen Interview-Sessions in der Band-Vergangenheit herum, förderte aber keine grundlegend neuen Fakten zu Tage, sondern nur das, was man sich ohnehin schon selbst denken konnte: Ein Haufen Egozentriker nimmt viel zu viele Drogen und hat viel zu viel Erfolg in viel zu kurzer Zeit. Als Erklärung ist das überzeugend und ausreichend, aber Ashcroft wird nicht müde, in jedem Interview zu betonen, dass die eigentlichen Gründe, die zur Trennung von The Verve führten, so wahnsinnig »fuckin' unbelievable« seien, dass die Zeit einfach noch nicht reif dafür sei, sie an die Öffentlichkeit weiterzureichen. Erst wenn er tot sei, sei es an der Zeit, die Geschichte wieder aufzurollen.

Womit er dann meist bei seinem Lieblingsthema angekommen ist: Denn der Tod spielt in Ashcrofts Leben eine entscheidende Rolle. Sein Vater starb, als er elf Jahre alt war, ein Erlebnis, von dem er sagt, dass es ihn wahrscheinlich erst dahin gebracht habe, wo er heute ist. Seitdem zieht sich der Tod als Thema durch seine Musik und ist in seinen Interviews beliebtes Thema eingehender Erörterungen: »Wenn meine Frau sterben würde, könnte ich auch nicht mehr leben.« »Erst wenn ich tot bin, kann die Verve-Biographie geschrieben werden.« Das kann schnell peinlich werden.

Rock'n'Roll handelt von Grenzerfahrungen, Risiko und Tod. Als Symbolik und Ritualisierung, wie zum Beispiel im Gothic oder Death Metal oder als ganz reale Selbstzerstörung, die nicht verheimlicht wird oder nicht mehr verheimlicht werden kann und in der Folge nicht selten zum Tod führt. Die eine Variante ist nur bedingt interessant, weil sie immer gleichen Schemata folgt, die andere Variante ist schlicht traurig. Ashcroft kann man keiner der beiden Gruppen eindeutig zuschlagen, ein wenig hängt er der zweiten Kategorie nach, freilich ohne groß angelegte Tragik. Trotzdem handelt sein wirklich allerschönstes Stück vom Tod. Es wurde vor zwei Jahren mit James Lavelle für dessen Unkle-Projekt aufgenommen. In »Lonely Souls« singt Ashcroft: »I want to die in a place, where no one knows my name.« Und die Geigen schwingen sich dazu himmelwärts.

Beim Rest der singenden Zunft würden sich einem ob dieser Worte die Zehennägel hochrollen, bei Ashcroft funktioniert es. Oder, um es mit den Worten von James Lavelle zu sagen: »Als Richard diesen Text sang, war ich so gerührt wie nie zuvor in meinem Leben.«

Das neue Album »Alone With Everybody« reißt einen nicht in derartig extreme Gefühlszustände. Es entlockt einem den ein oder anderen tiefen Seufzer. Es ist Musik für Leute, die von Weltreisen träumen, aber ihr Zuhause nie verlassen. »Ich will die Leute mit diesem Album anrühren wie Elvis«, sagt Ashcroft. Doch mit Elvis liegt er verkehrt. Unbescheiden ist er deswegen trotzdem nicht. Es ist Lee Hazelwood, ohne das Augenzwinkern, gepaart mit Arrangements, die zum Teil an Phil Spector erinnern. Und es ist das erste Album, das schon zu Sommerbeginn den Herbst einläutet.

Danke, Richard. Danke, Richard, dass du uns zeigst, was Mitgefühl heute noch bedeuten kann. Wir fühlen mit dir. Der Hall deiner wunden Seele klingt in unseren Ohren nach und lässt uns immer wieder aufs Neue aufseufzen. Jeder Song ein Werk, dein Album eine bittersüße Symphonie.

Richard Ashcroft: »Alone With Everybody«. Virgin