Aids- und Wissenschaftskritik

Arbeitsthese Aids

Die Aids-Kritik hat sich darauf reduzieren lassen, medizinische Thesen zu falsifizieren. Das vorherrschende Macht-Wissen-Dispositiv wird nicht mehr in Frage gestellt.

Wissenschaftliche Tatsachen sind keine einfachen Abbildungen von Wirklichkeit. Schon der Mediziner Ludwik Fleck hat 1935 in seiner Arbeit »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« analysiert, dass »Fortschritt« keine objektive Verbesserung oder Denkerweiterung bedeutet, sondern eine »kollektive Entwicklung des Denkstils«.

Und dieser Stil ist von Paradigmenwechseln auf der Basis bestehender oder sich neu entwickelnder Machtkonstellationen abhängig. Er selbst bildet eine »soziale Macht«. Obwohl die Thesen Flecks und später auch analoge Ansätze des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn in der Erkenntnistheorie weitgehend common sense sind, finden sie in der Forschungspraxis kaum Anwendung.

In der Analyse der Aids-Medizin spielt jedoch ihr Charakter als soziale Macht, die eine neue Krankheit und eine neue Betroffenengruppe etabliert, neue Präventionsformen und mit den Retroviren neue Krankheitsakteure eingeführt hat, eine wichtige Rolle.

1981/82 erschienen in der epidemiologischen Fachpresse in den USA Beiträge, die neue Krankheitserscheinungen bei jungen schwulen Männern beschrieben. Bald folgten vermehrt Krankheitsberichte in den Massenmedien, die intensive Diskussionen in einer verunsicherten Öffentlichkeit nach sich zogen. Sowohl die Zahl der Krankheitsfälle in den USA und Europa als auch die aufgeregte, manchmal panische Debatte erreichte zwischen 1985 und 1987 ihren Höhepunkt. Dabei ging es um Herkunft und Formen der Ausbreitung der mysteriösen Krankheit und um Wege zu ihrer Eindämmung. Immer wieder ging es aber auch um Bürgerrechte und Datenschutz.

Da zunächst kein Medikament auf dem Markt war, das die Krankheit verzögern oder sogar heilen konnte, bestand eine fast experimentelle Situation, welche gesundheitspolitische Innovationen begünstigte. Vor allem SozialwissenschaftlerInnen, Pflegekräfte, PsychologInnen und andere Angehörige nicht-medizinischer Heilberufe propagierten Bekämpfungsstrategien gegen Aids, die auf Information, Vorbeugung und Solidarität mit den Erkrankten setzten.

Besonders in der BRD stand diesem Vorgehen eine repressive Linie entgegen, propagiert von Peter Gauweiler und Edmund Stoiber, die Zwangstests und Isolation einforderten. In der Abwehr dieser reaktionären Strategie entstand ein breites soziales Bündnis von BürgerrechtlerInnen, Gesundheitsverbänden und schwulen Aktivisten. Insbesondere die Anfang der achtziger Jahre noch von jahrzehntelanger Verfolgung geprägte, schwache Schwulenbewegung in Deutschland wuchs in dieser Rolle - nicht zuletzt dank finanzieller Unterstützung der Gesundheitsbehörden für den Aufbau von Zentren, Zeitungen und Aids-Hilfen.

Ab 1983 setzte sich vor allem durch die konkurrierenden Forschungen von Robert Gallo und Luc Montagnier die These durch, dass das Retrovirus HTLV III, später HIV genannt, Aids verursache. Relativ früh wurde dagegen das aus der Krebstherapie kommende Mittel AZT eingesetzt.

Als 1987 der deutsch-amerikanische Molekularbiologe Peter Duesberg den Artikel »HIV is not the Cause of AIDS« im Cancer Research veröffentlichte, waren Aids-Hilfen und medizinische Behandlungsstrukturen schon weitgehend etabliert und die Positionen festgelegt. Trotzdem wurden Duesbergs Thesen am Anfang in der Schwulenszene und auch in der Politik aus unterschiedlichen Gründen diskutiert.

Michael Lenz, Mitbegründer der Deutschen Aids-Hilfe, erklärte z.B., dass es Interesse an Duesbergs Thesen gebe, weil sie die medizinische Suche nach Ko-Faktoren der Krankheit vorantreiben würden. Hingegen versuchten rechte Kreise, Duesbergs Arbeiten zu instrumentalisieren, um die sittlich-moralischen Gefahren der Homosexualität hervorzuheben.

Auch als Jahre später der »Erstentdecker« des HIV, Luc Montagnier, auf dem Welt-Aids-Kongress 1991 einräumte, die Wissenschaft habe die Bedeutung des Virus überschätzt, wurde dies von science community, Politik und AktivistInnen ignoriert. Ein Jahr später wiederholte Montagnier auf dem internationalen Aids-KritikerInnen-Treffen »Aids - A Different View«, dass HIV nicht die alleinige Ursache von Aids sein könne, dass HIV-Infektionen doch überlebbar seien und dass es auch einzelne Fälle Aids-ähnlicher Immunschwäche bei HIV-negativen PatientInnen zu geben scheine.

Gleichzeitig begann Duesberg, das Medikament AZT ins Zentrum seiner Kritik zu stellen. Dabei stützte er sich vor allem auf die Studie des New Yorker Schwulenaktivisten John Lauritsen, »AZT - Poison by Prescription«. In Anlehnung daran nannte Duesberg AZT »Aids by Prescription»: Es zerstöre die Kettenstruktur der DNA und schwäche so die Immunabwehr, zu deren Schutz es eingesetzt werde. Ebenso werde das Knochenmark angegriffen und die Produktion neuer Helferzellen gestoppt.

Mit der Zeit wurde Duesberg zu einem vehementen Kritiker des biotechnologischen Apparats. Als Grund für das Desinteresse der Forschungswelt bezeichnet er die wissenschaftliche und kommerzielle Unattraktivität dessen, was er »Vergiftungsprävention« nennt. Der vorläufige Höhepunkt medizinischer Fehlentwicklungen hat sich für Duesberg seit 1971 mit dem Krebs-Programm manifestiert. An dessen größten Erfolgen - wie der Entdeckung der Retroviren - war er selbst beteiligt. Rückblickend erklärt er diesen Ansatz für vollständig gescheitert.

Nach Duesberg kam es zu einem Interessenbündnis der VirologInnen mit den SpezialistInnen des US Epidemic Intelligence Service (EIS), die nach 1951 mehr und mehr Schlüsselpositionen in der US-Gesundheitsverwaltung bezogen hatten. Tatsächlich trat Aids ungefähr zur gleichen Zeit auf wie erste Messungen von T-Helferzellen und die Entdeckung von Retroviren. Nach dieser Logik ist die Krankheitsdefinition Aids genau das, was in virologischen Kreisen benötigt wurde, um vom eigenen Misserfolg abzulenken und die entwickelten Innovationen massenhaft verwertbar zu machen.

Mit dieser Argumentation ist die Kritik der Kausalität von HIV und Aids teilweise in Verschwörungstheorien abgedriftet und von einer detektivischen Logik des Skandals und der Enthüllung eingeholt worden. Die personelle Übereinstimmung der EIS-AbsolventInnen mit den Aids-ForscherInnen mag ungemein hoch sein. Doch zum einen ist der kritisierte Vorgang auf die US-Wissenschaftsszene begrenzt. Zum anderen ist gegen diesen Typ der Aids-Kritik einzuwenden, dass sie Wissenschaft nicht als abendländischen Macht-Wissens-Komplex begreift.

Denn die Logik müsste lauten: Thesen konstruieren, gleichzeitig im trial and error-Verfahren testen und ins real life exportieren, wo sie in einer Mischung aus Erfolg und Scheitern wirkungsmächtig werden. Stattdessen bleibt die Kritik an der alten dualistischen Frage wahr / falsch und am humanistisch-aufklärerischen Konzept hängen.

Gleichzeitig ist die vehemente Bekämpfung jeder Aids-Kritik ein Indikator für fehlende Selbstkritik im medizinischen Apparat. Nur mit einer selbstkritischen Debatte könnte beispielsweise eine Sichtweise mehr Bedeutung erlangen, die in der BRD seit der Abnahme der Neuinfektionen nach 1989 diskutiert wird: Die Immunschwäche trifft vor allem die Staaten Afrikas und andere Länder des Trikonts.

Diesem elementaren Zusammenhang zwischen sozialen und gesundheitlichen Problemen wird jedoch weiterhin keine krankheitsdefinierende Relevanz gegeben. Wenn Südafrikas Präsident Thabo Mbeki auf der Internationalen Aidskonferenz mit Verweis auf Duesberg die Aids-auslösende Wirkung von HIV in Frage stellt, basiert das auf einer jahrezehntelangen Erfahrung, wie westliche High-Tech-Krankenversorgung in Afrika hingeklotzt worden ist und die Basisgesundheitsversorgung zerschlagen hat, ohne sie ersetzen zu können.

Schon 1985 verließen deshalb die afrikanischen VertreterInnen unter Protest den Internationalen Aids-Kongress in Brüssel. Und auch die im Vorfeld von Durban diesmal mit AZT neu-aufgelegte Strategie, Medikamente besonders günstig abzugeben, ist in afrikanischen Staaten als Mittel bekannt, Absatzmärkte durch Abhängigkeit zu schaffen und billige und problemnahe Lösungsansätze der Primary Health Care, die auch die WHO als Schlüsselstrategie anerkennt, zu unterlaufen.

Die Schnittmenge der kritischen Kommentare zu »Aids in Afrika« ist, dass die populär-wissenschaftliche und medial-unterstützte Hysterisierung des Diskurses nicht nur rassistische Anti-Einwanderungsmaßnahmen im Norden legitimiert, sondern auch das soziale Elend in Afrika in ein ausschließlich biologisches Problem umdefiniert. Mit der publizistischen Verlagerung der in der »ersten Welt« ausgebliebenen Aids-Katastrophe in die »dritte Welt« werden die dortigen sozial-ökonomischen Probleme verdrängt. Plötzlich ist von Hunger und Unterernährung nicht mehr die Rede.

Die Medizin war schon einmal weiter - Rudolf Virchow, Robert Koch, Louis Pasteur, sie alle wussten: »Der Erreger ist nichts, das Umfeld ist alles« (Pasteur).