Türkei und die EU

Ruhe im Karton

Die Türkei will europäische Standards einführen. Zum Beispiel die Isolationshaft.

EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen ist zufrieden über die Fortschritte, die die Türkei seit dem EU-Gipfel von Helsinki erzielt habe. Nun sei die »Zeit der Deklarationen« vorbei, verkündete er vergangene Woche bei seinem Türkei-Besuch, »jetzt beginnt die wirkliche Arbeit«. Tatsächlich hat man in Ankara die Ärmel hochgekrempelt - und kann erste Erfolge in der Angleichung an europäische Standards melden. Auf dem Programm stehen die Abschaffung der Todesstrafe, eine Refom des Gesinungs-Paragrafen 312 des Strafgesetzes sowie die Neugestaltung des Strafvollzuges.

In ihrem letzten Länderbericht hatte die EU-Kommission notiert, dass »die Haftbedingungen in den türkischen Gefängnissen weder den vom Europarat festgelegten Normen noch den von den Vereinten Nationen gestellten Mindestanforderungen« entsprechen. Das soll sich nun ändern.

Nicht nur im Hinblick auf den angestrebten EU-Beitritt sind die Zustände in den Gefängnissen ein Problem. Ende Juni alarmierte der Chef der Generaldirektion der Haftanstalten, Ali Suat Ertosun, die Gefängnisse seien zu »hundert Prozent gefüllt«. Mehr als 72 000 Inhaftierte zählt das Land, etwa 11 000 davon sitzen aus politischen Gründen ein, zumeist wegen Zugehörigkeit zur PKK. Bislang sind die meisten Gefangenen in Gemeinschaftszellen mit 30 bis 40 Insassen untergebracht. Mancherorts müssen sich zwei Gefangene ein Bett teilen, die hygienischen Verhältnisse sind oft katastrophal, aus einigen Knästen wurden Hepatitis-Fälle gemeldet.

Daneben machen die ständigen Protestaktionen, Hungerstreiks und Knastrevolten dem Staat zu schaffen. Immer wieder enden Aufstände mit Todesopfern, wie zuletzt in der Haftanstalt Ankara-Ulucanlar, wo im September elf Gefangene erschossen oder erschlagen wurden (Jungle World, 41/1999). Imageschädigende Nachrichten, die man künftig verhindern will. Ein anderes Problem ist, dass die illegalen linken Organisationen die Knäste als Schulungszentren nutzen. Politiker und Medien behaupten gar, die Untergrundgruppen würden aus dem Knast heraus gesteuert.

Ihrer gewohnten Beschäftigung gehen auch die inhaftierten Mafiabosse nach. Viele von ihnen kommen aus dem Umfeld der faschistischen Regierungspartei MHP; sie können vom Knast aus ungestört per Handy ihre Geschäfte organisieren und residieren mitsamt Hofstaat in den Sammelzellen. Clan-Strukturen und strenge Hierarchien herrschen auch bei den anderen Gefangenen, die wegen krimineller Delikte einsitzen. Am härtesten sind die Haftbedingungen in den Kindergefängnissen. So unterschiedlich die Situation der verschiedenen Gefangenen in den jeweiligen Knästen ist - die ständige und direkte Kontrolle der Staatsmacht endet oft vor den Türen der Gemeinschaftszellen.

Nun hat die Regierung die Lösung gefunden: die Isolierung der Inhaftierten. Zunächst einmal 5 000 Gefangene sollen in Zellen verlegt werden, die für eine bis drei Personen angelegt sind. In Ankara-Sincan und fünf weiteren Städten sind bereits Knäste dieser Art fertiggestellt, weitere befinden sich im Bau. Binnen drei Jahren sollen die Gemeinschaftszellen vollständig abgeschafft sein. Als Vorbild dient die Isolationshaft, wie sie in Deutschland seit den siebziger Jahren praktiziert wird.

Bereits Anfang der achtziger Jahre hatte die Militärjunta versucht, Isolationshaft einzuführen, war aber am Widerstand der Gefangenen gescheitert. Noch 1996 war die Verlegung von politischen Gefangenen in den Knast von Eskisehir, wo eine abgemilderte Form der Einzelhaft praktiziert wird, der Auslöser für ein 69 Tage dauerndes Todesfasten. Zwölf Gefangene starben seinerzeit. Allein diese Fasten-Aktion verdeutlichte die Schwäche der Opposition - sie forderte mehr Todesopfer als alle vorangegangenen Hungerstreiks. Die Entpolitisierung der Gesellschaft und der Bedeutungsverlust der linken Opposition sind seitdem vorangeschritten. Die Aussichten, das Isolationssystem durchzusetzen, sind daher für die Regierung günstig.

Gegenüber der Öffentlichkeit wird das so genannte Zimmer-System als humaner Strafrechtsvollzug verkauft: Man wolle mit den Praktiken der Mafia und der linken Gruppen aufräumen, Revolten unterbinden und - natürlich - europäische Standards erfüllen.

Selbst Generalstaatsanwalt Vural Savas gibt sich als Menschenfreund. Jüngst beklagte er die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Homo- und Transsexuellen, Drogensüchtigen und sonstigen, bei anderen Gefangenen unbeliebten Personen. Diese wolle man, so Savas, durch die Einführung des »Zimmer-Systems« schützen. Eine erstaunliche Sorge, denn Homosexuelle werden immer wieder von der Polizei willkürlich angegriffen, für Drogensüchtige gibt es so gut wie keine Hilfsangebote.

Für den Menschenrechtsverein sind solche humanitäre Begründungen Zynismus. »Im Gesundheitswesen oder der Schulausbildung, dem ganzen Sozialsystem, kümmert sich niemand um europäische Standards«, so eine Sprecherin, »aber ausgerechnet in den Gefängnissen will man europäische, aber unmenschliche Standards einführen.«

Allerdings wäre es zu teuer, für alle Inhaftierten Einzelzellen zu bauen. Auch deshalb möchte die Mehrheit der politischen Klasse die Gefängnisse mit einer Teil-Amnestie leeren. Die Regierungsparteien DSP und Anap sind gewillt, notfalls gegen ein Votum des Koalitionspartners MHP ein Amnestiegesetz zu beschließen. Davon ausgenommen bleiben sollen die politischen Gefangenen.

Unter den politischen Gefangenen ist die Stimmung angespannt. Anfang Juli eskalierte die Situation im westanatolischen Burdur. Bei der Niederschlagung des Aufstandes wurden zehn Inhaftierte zum Teil schwer verletzt, dem Gefangenen Veli Sacilik wurde ein Arm abgerissen. Am gleichen Tag verbarrikadierten sich in Istanbul-Bayrampasa etwa 500 Häftlinge, nahmen elf Vollzugsbeamte als Geiseln und hissten Transparente mit der Aufschrift »Wir wollen Amnestie« aus den Zellenfenstern. Nach einigen Stunden wurde die Aktion beendet.

Aus Burdur sind inzwischen die meisten politischen Gefangenen verlegt worden. Nach Angaben des Angehörigenvereins befinden sich dort noch 17 Häftlinge. Sie werden geschlagen, die inhaftierten Frauen habe man mit Knüppeln zu vergewaltigen versucht, den Verletzten werde medizinische Hilfe verweigert. Letzte Woche traten die in Burdur verbliebenen Gefangenen in einen Hungerstreik.

Und das könnte erst der Anfang einer harten Auseinandersetzung sein, wie Coskun Üsterci von der Stiftung für Menschenrechte vermutet: »Der Staat ist dazu entschlossen, die Einzelzellen einzuführen, die politischen Gefangenen sind dazu entschlossen, Widerstand zu leisten. Es könnte wieder zu Todesfasten und Angriffen der Staatsmacht kommen. Es sind wieder Tote zu befürchten.« Auch eine Form, die Zahl der Inhaftierten zu verringern.