19.07.2000

Stiften gehen

Mit dem Entschädigungsgesetz hat sich die politische Klasse der Bundesrepublik ihrer historischen Verantwortung entledigt. Der moderne Antisemitismus der Neuen Mitte präsentiert die Deutschen als Opfer.

Der übermächtige Wunsch nach Erlösung spielte eine bedeutende Rolle, als die meisten Deutschen zu gläubigen Jüngern der »politischen Religion des Nationalsozialismus« (Claus-Ekkehard Bärsch) konvertierten. Die zunehmend selbstbewusster werdende Neue Mitte des wiedervereinigten Deutschland sehnt sich heute nach Erlösung von dieser historischen Schuld. So vertreten nach einer neueren Umfrage des Forsa-Institus 53 Prozent der Deutschen die Auffassung, es solle »nun ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden«.

Doch Erlösung ist nach der christlichen Ideologie ohne Opfer nicht zu haben. Der umtriebige Günter Grass hat jetzt alle erwachsenen Deutschen dazu aufgerufen, 20 Mark auf das Konto der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« zu überweisen, um zu zeigen »dass sie etwas gut machen wollen«. Der erwachsene Deutsche »opferte nicht mehr als zwei Kinobesuche«, rechnet Grass den potenziellen Spendern vor, um ihnen den modernen Ablasshandel schmackhaft zu machen.

Bei Deutschen kaufen

Für die deutsche Wirtschaft wird es etwas teurer. Aber angesichts des religionspolitischen Ziels, sich durch eine letztmalige Zahlung von einem Promille des Jahresumsatzes endgültig von allen Sünden zu erlösen, ist der Preis des Opfers gering. Fünf Milliarden Mark sollen deutsche Unternehmen in den Fonds der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« einzahlen. Die Hälfte des Betrags darf von der Steuer abgesetzt werden. Trotzdem fehlen immer noch zwei Milliarden Mark. Eine lächerlich geringe Summe. Und doch sträuben sich die Unternehmen mit der gleichen Entschlossenheit, mit der sie sich im Nationalsozialismus um die Zwangsarbeiter bemüht haben.

Schon fordert der Fachmann für Schuld und Sühne, Rainer Eppelmann, zu einem Kaufboykott gegen zahlungsunwillige Firmen auf. Aber Deutsche haben schon immer gerne bei Deutschen gekauft und werden dies auch weiterhin tun, auch wenn Eppelmann als Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse (CDA) eine »schwarze Liste« der Firmen aufstellen möchte, die bis zum 30. September nicht einzahlen.

Am vergangenen Freitag hat der Bundesrat in Bonn einstimmig das Gesetz zur Errichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« verabschiedet. Eine Aussprache fand nicht statt. Salbungsvolle Worte waren schon im April beim Einbringen des Gesetzentwurfs im Bundestag gesprochen worden. Gerhard Schröder sagte zwar, mit der Stiftung zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter wolle man »gerade keinen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen«, kam dann aber schnell auf die eigentlichen Ziele des Projekts zu sprechen: »Ansprüche und Leistungen können nur noch gegen die Stiftung geltend gemacht werden. Die US-Regierung wird in die laufenden US-Klagen mit einem Statement of interest eingreifen.«

Schröders »Opa für's Grobe« (Otto Graf Lambsdorff über sich selbst) drohte bei der dritten Lesung des Entwurfs Anfang Juli unverhohlen den amerikanischen Gerichten: »Erst in dem Moment, in dem der deutsche Bundestag festgestellt hat, dass mit der Abweisung der in den USA anhängigen Klagen Rechtsfrieden hergestellt ist, wird die Stiftung berechtigt und verpflichtet, ihre Auszahlungen zu beginnen«, sagte Lambsdorff. »Die Unternehmen wollen sicher sein, die Bundesrepublik will das auch, dass sie nicht weiter mit diesen Klagen überzogen werden. Da muss Schluss sein.«

Damit machte der seit dem günstigen Abschluss der Verhandlungen von allen Seiten plötzlich moralisch geadelte Graf deutlich, wie egal ihm die wortreich beschworene »geschichtliche Verantwortung« in Wirklichkeit ist und wie sehr ihm das Nordamerika-Geschäft deutscher Konzerne am einseitig mitfühlenden Herzen liegt. »Er ist der Typ, dem man viel verzeiht, weil man unterstellt, dass er auch gegen sich selbst hart ist«, schrieb die Süddeutsche Zeitung, als berichtete sie über einen anderen Mann, der sich 1945 mit einiger Härte gegen sich selbst viel zu spät aus der Welt schaffte.

Übertroffen wurde Lambsdorffs Einsatz für die bedrohte deutsche Wirtschaft nur noch von der innigen Liebe der CDU/CSU-Fraktion zu den heimatvertriebenen Deutschen. Ausgerechnet bei der Debatte über das Stiftungsgesetz ließ Hans-Peter Uhl (CSU) seinen Gefühlen für die Volksgenossen freien Lauf. »Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss es auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben«, forderte Uhl vom Ausland. Die Vertriebenen müssten »von diesen Staaten eine der deutschen Regelung entsprechende Entschädigung in Form einer humanitären Geste« erhalten. Uhl vertrat damit keine Außenseitermeinung. 29 Abgeordnete der CDU/CSU gaben ähnliche »persönliche Erklärungen« ab, und nach Forsa-Umfragen stimmen derzeit 36 Prozent der Bundesbürger der aggressiven Relativierung zu, die Vertreibung der Deutschen und der Holocaust seien gleichwertige Verbrechen.

Nicht gutzumachen

Wie der Berliner Antisemitismus-Forscher Lars Rensmann in seinen Studien gezeigt hat, kann man diese Form der »aggressiven Erinnerungsabwehr« als modernen »sekundären Antisemitismus« bezeichnen. Auffällig ist das Muster, das sich durch die ganze Debatte um die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter zieht. Die juristische Verantwortung wird sowohl von den Wirtschaftsunternehmen als auch von der rot-grünen Bundesregierung geleugnet. Die scheinheilige Rede, man könne »das begangene Unrecht, das zugefügte menschliche Leid niemals wieder gutmachen« (Gerhard Schröder), verschleiert nur schlecht den Unwillen, den Opfern mehr als billige Symbolik zu bieten. Geschickt wird die »moralische Verantwortung« betont - weiß man doch, dass man sich ihrer mittels Sonntagsreden und Zeichen entledigen kann. Wo dieser Trick zu scheitern droht, taucht schnell das »moderne antisemitische Stereotyp jüdischer Unversöhnlichkeit und Rachsucht« (Rensmann) auf.

So kritisierte der Sprecher der deutschen Wirtschaft, Manfred Gentz, in Bezug auf die Kläger gerne die »unerfreulichen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten«, und Lambsdorff berichtete dem wissenden deutschen Publikum, dass amerikanischen Anwälten »ziemlich viel« einfalle.

Während die Wirtschaftsvertreter um jede Mark feilschen, entsteht so ein Klima, in dem Überlebenden und ihren Nachkommen »nacktes materielles Interesse an der Erinnerung an die Verfolgung unterstellt« wird (Rensmann). »Während man selbst nur 'normal' weiterleben möchte, so die sekundär antisemitische Figur, (...) wollen die Juden sich noch an ihrem eigenen Untergang und über ihn hinaus materiell bereichern und lassen deshalb die Deutschen nicht in Ruhe.«

Eine Projektion, bei der die eigene Aggressivität den Opfern zugeschrieben wird. Geldgierig sind in dieser wahnhaft verzerrten Realitätswahrnehmung nicht die bis heute zahlungsunwilligen deutschen Unternehmer, sondern die überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiter mit ihren Klagen. Der moderne Antisemit der Neuen Mitte gebärdet sich als Opfer. So wird aus den bis heute von der ehemaligen Zwangsarbeit profitierenden Unternehmen die »schutzbedürftige« (Schröder), letztlich von mächtigen Juden verfolgte deutsche Wirtschaft.

Diese dreiste Verkehrung der historischen Tatsachen in ihr Gegenteil zieht sich auch durch den gesamten Gesetzestext der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«. »Nicht auszudenken«, schreibt Karl D. Bredthauer in den Blättern für deutsche und internationale Politik, »die Gesetzestexter hätten auch nur einen Bruchteil jener Empathie, mit der sie Nöte und Neigungen der inkriminierten Konzerne erfassen, auf Menschenwürde und Traumata der Opfer verwendet«. Der Text strotzt von deutschen Selbstentlastungsformeln. Die singulären deutschen Verbrechen werden in der Begründung zum Gesetzentwurf zu kriegsbedingtem »Unrecht«.

Sätze wie »Das 20. Jahrhundert war für Deutschland und seine Nachbarstaaten von zwei schrecklichen Kriegen bestimmt« scheinen im neuen selbstbewussten rot-grünen Deutschland keinem mehr aufzustoßen. Eventuelle weitere Ansprüche der Opfer sollen sich »entsprechend dem Vorbild des Contergan- bzw. des HIV-Stiftungsgesetzes« nur noch gegen die Stiftung richten dürfen: Der Holocaust als Schadensfall oder naturhaft auftretendes Virus. »Nichts von dem, was schließlich als Ergebnis großzügigen Wiedergutmachungswillens gefeiert wird, entspringt dem originären Bedürfnis oder der Initiative der deutschen Initiatoren«, so Bredthauer, »geleistet wird letztendlich nur, was Druck von außen erzwingt.«

Normal beschäftigt

Ohne Zwangsarbeiter, das hat der Hamburger Professor für Volkswirtschaft, Herbert Schui, mit ökonomischen Berechnungen nachgewiesen, hätte Deutschland den Krieg weniger lange führen können. Bis 1945 mussten insgesamt etwa 14 Millionen Menschen als Fremdarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge in Großdeutschland Zwangsarbeit leisten. Ende 1944 arbeiteten rund 8,8 Millionen für SS, Organisation Todt und in KZs. Die Zahl der von Deutschen zur Sklavenarbeit gezwungenen Menschen entspricht 1944 damit der Stärke der Wehrmacht (8,8 Millionen).

Hinzu kommt, dass nach Schuis Berechnungen die Produktivität pro Lohneinheit eines Zwangsarbeiters 2,4 mal so hoch war wie die eines normal Beschäftigten, weil die Zwangsarbeiter die Volkswirtschaft fast nichts kosteten. Deshalb kann nach Schui von einer Effektivität der Zwangsarbeiter ausgegangen werden, die rund 20 Millionen Normalbeschäftigten entspricht.

Mit der durch Sklavenarbeit gesteigerten Wertschöpfungskapazität lässt sich auch teilweise das gar nicht so wunderliche »Wirtschaftswunder« erklären: »Ohne Zwangsarbeiter wäre der wirtschaftliche Wiederaufstieg Westdeutschlands nach dem Krieg wesentlich weniger zügig vorangegangen.« So wird verständlich, dass ausnahmslos alle deutschen Unternehmen bis heute ökonomisch von der Menschenschinderei im Nationalsozialismus profitieren.

Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski errechnete für die Zwangsarbeiter eine vorenthaltene Lohnsumme von 180 Milliarden Mark zu heutigen Preisen. Von »moralischer Verantwortung«, symbolischen Zeichen und anderem Brimborium hätte gar nicht die Rede sein müssen, wenn man diesen Betrag als Stiftungsvermögen angesetzt hätte: Für die noch lebenden Opfer der deutschen Herrenmenschen, die jetzt mit Einmalzahlungen von fünf bis 15 000 Mark rechnen müssen, wäre dies auch noch keine »Wiedergutmachung« gewesen, dafür aber eine verspätete Lohnnachzahlung.

So triumphieren einmal mehr die Nachfolger der Täter. Anstatt den tatsächlichen Entschädigungsbedarf festzustellen, werden Almosen verteilt. Die im Stiftungsgesetz unter der Rubrik »Rest der Welt« zusammengefassten überlebenden Zwangsarbeiter etwa aus Bulgarien und Rumänien sowie Sinti und Roma werden wahrscheinlich nicht einmal den Mindestsatz erhalten. Kriegsgefangene sind nicht leistungsberechtigt.

Am deutlichsten tritt der repressive Geist des Gesetzes in Paragraf 16 zu Tage. Dort heißt es: »Jeder Leistungsberechtigte gibt im Antragsverfahren eine Erklärung ab, dass er (...) mit Erhalt der Leistung nach diesem Gesetz auf jede darüber hinausgehende Geltendmachung von Forderungen gegen die öffentliche Hand für Zwangsarbeit und für Vermögensschäden auf alle Ansprüche gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht (...) unwiderruflich verzichtet. Der Verzicht wird mit dem Erhalt einer Leistung nach diesem Gesetz wirksam.« Wenn Schröder behauptet, mit der Stiftung wolle man »gerade keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen«, wird man ihn auf Grund dieser Passage noch zurückhaltend als einen schamlosen Lügner bezeichnen müssen.

Der Versuch, sich mit Hilfe aggressiver Leugnung historischer Tatsachen der Verantwortung zu entziehen und sich damit um jeden Preis von der Schuld der eigenen Geschichte zu erlösen, war erfolgreich. Nicht auszudenken, was sich ein seiner lästigen Fesseln bald gänzlich befreites, die Vergangenheit offensiv umlügendes weiter »erlösungsbedürftiges« Deutschland unter Rot-Grün noch alles zutrauen könnte.