Milchbar in Kraków

Sznycel oder Kotlet

Eurotop III: Die polnischen Milchbars gab es schon vor der Wende. Doch aus Nostalgie kommt hier keiner her.

Zehn Tische stehen in dem viel zu kleinen Raum. Nur über zwei enge Gänge kann man sich dazwischen bewegen. Die Leute, die an meinem Stuhl vorbeischieben, kommen mir unangenehm nahe, wenn sie der Bedienung ausweichen müssen. Die ist ständig unterwegs. Mit zwei Tellern Suppe kommt sie aus der Küche. Und eilt mit dem leerem Geschirr schon wieder zurück. Ich versuche zu bestellen. Dazu muss ich erst einmal die Aufmerksamkeit der Kellnerin gewinnen. Sieht sie mich nicht? Endlich kommt sie zu meinem Tischnachbarn. Doch ehe ich mein Anliegen vorbringen kann, ist die Bedienung schon weiter. Ich schaue noch einmal in die Speisekarte. Die maschinengetippte Seite in Klarsichtfolie habe ich unter dem Suppenteller meines Nachbarn hervorgezogen. Der Mann mir gegenüber, der gleichzeitig mit mir das Lokal betreten hatte, ist schon fertig - mit Suppe und Hauptgericht - und geht.

Ich sitze »Bei Staschek«, in einer Milchbar. Diese polnischen Gaststätten sind noch ein Relikt aus der Vorwendezeit. Die Milchbars waren schon immer Kantinen für die gesamte Bevölkerung. Vor allem Arbeitern und Studenten boten sie eine billige, einfache Mahlzeit. Daran hat sich in den letzten zehn Jahren nicht viel geändert, lediglich die Konkurrenz ist größer geworden. Wegen der explodierenden Mieten des freien Marktes musste Anfang der neunziger Jahre ein großer Teil der Milchbars schließen. Die Lokale, die überlebt haben, erfreuen sich inzwischen wieder großer Beliebtheit - wegen ihrer unschlagbaren Preise. Eine Portion Sauerkraut-Fleisch-Eintopf kostet etwa eine Mark, Suppen sind ab 35 Pfennig zu haben. Das ist selbst mit polnischem Einkommen erschwinglich.

Als die Kellnerin neben mir steht, weiß ich vor Schreck nicht mehr, was ich mir ausgesucht habe. Was ich denn nun wolle, fährt sie mich an. Es geht hier offenkundig darum, schnell den Hunger der Gäste zu stillen. Die Speisekarte liegt schließlich auf dem Tisch. Wer kommt da auf die Idee, die Bedienung nach einer Empfehlung zu fragen? Keiner erwartet hier Service und Höflichkeit. Die Kellnerin verheimlicht nicht, dass für sie jeder weitere Gast zusätzliche Arbeit bedeutet. Keiner lächelt. Hier wird gegessen, nicht kommuniziert. Ich halte den Betrieb auf.

Meine Tischnachbarn weichen meinen Blicken aus. Zu viert sitzt man an den winzigen Tischen. Ich muss mich entscheiden, ob ich ein Bein außerhalb des Tischbeins abstelle oder mich an meinen Nachbarn drücke. Doch Körperkontakt wird peinlich vermieden. Ein älteres Ehepaar drängelt sich umständlich zu unserem Tisch durch, sehr darauf bedacht, nicht zu kurz zu kommen. Gerade eben haben sie noch gefragt, ob die Stühle frei sind, jetzt habe ich schon das Gefühl, selbst zu stören.

Der Eingang zur Milchbar ist nicht leicht zu finden. Die Kantine liegt verborgen hinter einem Wohnhaus. Man muss zunächst einen langen, dunklen Gang und dann einen Hinterhof überqueren. Es ist fast unangenehm, so weit in die Privatspäre der Anwohner einzudringen: Neben einer Teppichstange hängt frisch gewaschene Wäsche. Dahinter überfüllte Mülleimer, aus denen die Abfälle herausquellen. Die Fassade riecht modrig-feucht, der Putz bröckelt. Über allem liegt der leicht muffige Essensgeruch, hier wird gutbürgerlich gekocht - man fühlt sich an Berlin erinnert. In den darüberliegenden Stockwerken ist der Hof dagegen auf jeder Etage eingerahmt von hölzernen Galerien. Sie sind offen und verleihen dem Hof eine mediterrane Atmosphäre.

Hier, in der Altstadt von Krak-w, nicht weit vom Hauptmarkt, sind die Häuser zwei- oder sogar dreihundert Jahre alt. In einem anderen Land mit mehr Tourismus-Erfahrung wären die Gebäude schon längst für die kommerzielle Ausschlachtung saniert worden.

Doch hier in dem heruntergekommenen Hinterhof wird vor allem gewohnt. In Höfen wie diesem zeigen sich die realen Lebensbedingungen der Krak-wer. Denn gerade in dieser Boomtown verdecken frisch gestrichene Fassaden vielfach die Realität.

Während die meisten Lebensmittel inzwischen Westpreise erreichen, liegt der Standardlohn bei gerade mal 225 Euro. So müssen viele Polen zwei Vollzeitjobs übernehmen, um über die Runden zu kommen. Andere versuchen, neben ihrem Hauptberuf sich durch Handeln was dazu zu verdienen. So gibt es in den polnischen Städten unzählige Buden und Stände, an denen Waren aller Art angeboten werden - wohl der deutlichste Ausdruck der neuen polnischen Geschäftigkeit. Darüber hinaus sind die kleinen Verkaufsstände typisch für die Arbeitssituation in Polen, da sie nur einfache, schlecht bezahlte Arbeit bieten. Den wenigen Erfolgreichen steht die breite Masse der Verlierer der wirtschaftlichen Veränderungen gegenüber. Besonders ältere Menschen sind von der Armut betroffen.

In den Milchbars wie »Bei Staschek« zeigt sich jeden Mittag diese andere Seite Polens, die im scharfen Kontrast steht zu dem Bild des schmucken, nur noch wenige Schritte von der EU entfernten Polens, das polnische Politiker so gerne bemühen.

Bereits 20 Minuten vor Beginn der Essensausgabe ist die Hälfte der Plätze im Essraum »Bei Staschek« besetzt. Dennoch ist es ruhig: Die Leute warten und starren Löcher in die Luft. Das Bild erinnert an die Zeiten der Planwirtschaft, als es ausreichte, einen Verkauf nur anzukündigen, um eine Menschenmenge zu versammeln.

Als schließlich eine junge Frau aus der Küche in den Essraum tritt, werden zuerst die vorderen drei Tische bedient. Die restlich Gäste müssen weiter warten. Man bestellt Piroggen (Maultaschen), Naleschniki (Crpes), saure Kartoffelsuppe oder Gerichte wie Kohlrouladen oder Bigos. Ein so breites Angebot wie heute gab es früher nicht. Die erste Milchbar, »Pionier«, öffnete 1946 in Krak-w. Dort konnten mit Essenskarten die für die polnische Küche typischen Mehl- und Milchspeisen erworben werden. Daher stammt die Bezeichnung »Milchbar«. Fleisch war sehr viel teurer und gehörte lange Zeit nicht zum Angebot. Im Kapitalismus können sich viele der Bars nur noch mit staatlichen Subventionen am Leben halten: Bis auf die Fleischgerichte wird das Essen hier zu 48 Prozent bezuschusst. So stellen die Milchbars - verdeckt - eine besonders für alte Menschen notwendige Sozialleistung dar.

Jeden Tag um halb eins beginnt die Massenabfertigung. Gesprochen wird kaum. Doch die kurze Wartezeit und die hohe Fluktuation sorgen für einigen Lärm. Durch das geöffnete Fenster schauen die im Hof wartenden Leute herein. Sie haben Glück, denn die ersten sind bereits nach zehn Minuten mit dem Hauptgericht fertig. Sie stehen - noch kauend - auf, und gehen zum Kassierer, um zu zahlen. Die gehenden Tischnachbarn murmeln noch ein Dziekuje (Danke) und schon sitzt mir jemand Neues gegenüber. Bei McDonald's kann man wohl nicht schneller essen.

Die wenigsten Polen kommen aus Nostalgie in die Milchbars. Die Armen führt der Preis hierher. Und für den beschäftigten Teil der Bevölkerung erfüllen die Milchbars alle wesentlichen Anforderungen: Man isst polnisch und wird nicht lange mit unnützem Zeug aufgehalten.

In der Eurotop-Serie berichten wir in loser Folge aus europäischen Städten. Bisher erschienen: Istanbul (Jungle World, 28/00) und Wien (30/00).