Militante Streiks in Frankreich

Erst gefeuert, dann explodiert

Französische Arbeiter haben erkannt, wie man mit Hilfe ökologischer Risiken soziale Forderungen durchsetzt.

Brennende Autoreifen, ätzende Schwefelsäure, explodierende Gasbehälter und Hochöfen: Deutlich rauer sind während der letzten drei Wochen in Frankreich Methoden und Drohungen in sozialen Konflikten geworden. Dabei herrscht angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage zur Zeit Euphorie in den Medien. Das wirtschaftliche Wachstum sei zurückgekehrt, Optimismus sei angesagt, die Franzosen sähen mit Zuversicht in die Zukunft. Die französische Industrie läuft auf Hochtouren, zur Zeit nutzt sie 87,5 Prozent ihrer Produktionskapazitäten aus und liegt damit knapp unter dem historischen Rekord vom April 1990 (88 Prozent).

In scharfem Kontrast hierzu steht die Situation jener Regionen, die vom allgemeinen Aufschwung abgeschnitten sind - das sind besonders diejenigen, die überwiegend von traditionellen Industriezweigen abhängen. Zum Beispiel die Ardennen an der französisch-belgischen Grenze, einst Sitz einer florierenden Textilindustrie sowie zahlreicher Stahlbetriebe. In Givet, einem Enklaven-Städtchen im Grenzgebiet, das auf drei Seiten von belgischem Territorium umgeben ist, fingen die jüngsten radikalisierten Konflikte an.

Schon heute liegt die offizielle Arbeitslosenrate in Givet bei 22 Prozent. Bald dürfte sie auf über 25 Prozent klettern, wenn die Entlassenen der Kunstseidenfabrik Cellatex dazukommen. Der Betrieb, der vor 20 Jahren über 800 Leute beschäftigte, zählte noch 153 Arbeiter und Angestellte, als er am 5. Juli vom Handelsgericht den Schließungsbescheid bekam. Die Stadt Givet hatte an der Kunstseidenproduktion - die technisch überholt ist - verzweifelt festgehalten, weil klar war, dass in der Gegend keine neuen Investitionen getätigt würden. Jahrelang schlossen die Behörden bei Umweltproblemen die Augen, obwohl Cellatex als »mit Seveso-Risiko behaftet« eingestuft war.

Doch dann kam das Aus. Die Arbeiter und Arbeiterinnen besetzten noch am selben Tag ihren Betrieb. Zunächst machte niemand Anstalten, auf ihre Forderungen einzugehen oder ihnen eine andere Zukunftsperspektive zu geben. Da erinnerten sie sich der 56 000 Liter Schwefelsäure, die auf dem Fabrikgelände lagerten. In einem Akt der Verzweiflung drohten die Arbeiter, sie würden die Chemikalie zur Explosion bringen und »mit Cellatex die ganze Stadt hochgehen lassen«.Als Zeichen ihrer Entschlossenheit kippten die Beschäftigten, die die Fabriktore mit brennden Reifen verbarrikadiert hatten, 5 000 Liter der Schwefelsäure in einen Zufluss der Maas, der unter dem Fabrikgelände durchfließt, gemischt mit knallroter Farbe, um die Verseuchung gut sichtbar zu machen. Das Risiko war freilich kontrolliert, da der Zufluss einige hundert Meter weiter aufgestaut wird.

Während sich Medien über »sozialen Terrorismus« und »Erpressung« ereiferten, beeilten sich Vertreter des Zentralstaats und ortsansässige Parlamentarier, den Konflikt zu entschärfen. Die Beschäftigten erhielten nach einer am 20. Juli geschlossenen Einigung einen Sozialplan, der vorsieht, dass jeder von ihnen eine Abfindung in Höhe von 80 000 Francs (12 200 Euro) bekommt. Ferner sollen sie an einem zwölfmonatigen Umschulungsprogramm teilnehmen können - 80 Prozent des Lohns werden fortgezahlt. Denjenigen, die einen anderen Arbeitsplatz mit niedrigerer Bezahlung finden, wird ihr Lohnniveau für zwei Jahre vom Staat garantiert.

Der Erfolg der Cellatex-Arbeiter fand sofort Nachahmer. In den letzten beiden Juli-Wochen drohten die Beschäftigten der Brauerei Adelshoff im Strasbourger Vorort Schiltigheim damit, die Gasbehälter auf dem Firmengelände hochgehen zu lassen. Die Arbeiter des Stahlwerks Forgeval in Valenciennes (Nordostfrankreich) wollten die Hochöfen ihres Betriebs in die Luft jagen. Beide Male sollte verhindert werden, dass der Betrieb geschlossen wird. Die Brauerei war von dem niederländischen Bier-Konzern Heineken aufgekauft worden, Forgeval, wo früher Präzisionstechnik unter anderem für Atomkraftwerke und Bohrinseln hergestellt wurde, leidet unter Auftragsmangel und internationalem Preisdruck. Das Ende war da, als einer der drei Hauptaktionäre mit der Erklärung absprang, er werde nur noch in die New Economy investieren. In beiden Fällen konnten nur Sozialpläne und Abfindungen ausgehandelt werden .

Angespornt von diesen Beispielen, aber auch von den Kämpfen der linken Bauern um José Bové, traten Ende Juli die 236 Arbeiterinnen des Automobil-Zuflieferers Bertrand Faure in Nogent-sur-Seine, eine Autostunde südöstlich von Paris gelegen, in den militanten Kampf. Sie drohten damit, sämtliche Maschinen anzustecken oder mit Hilfe von Gasflaschen in die Luft zu jagen, falls die Schließungspläne des Hauptaktionärs Peugeot umgesetzt würden.

Bei Bertrand Faure handelt es sich um eine rentable und Gewinn erwirtschaftende Produktionsstätte, die vor Jahren noch als »Musterbetrieb« gehandelt wurde. Seit vielen Jahren hatten die Beschäftigten alle Forderungen nach maximaler Flexibilität und just-in-time-Produkion erfüllt, waren an Feiertagen und während der Urlaubszeit in den Betrieb gekommen. Doch dann fiel die Entscheidung gegen Nogent-sur-Seine. Im Ausland sind die Löhne niedriger, also soll der Textilbetrieb, der Sitzbezüge für Automobile produziert, ausgelagert werden.

Auch hier konnten lediglich Abfindungen ausgehandelt werden, die je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit zwischen 40 000 und 80 000 Francs (6 100 und 12 200 Euro) betragen. Zwar wurde die Besetzung der Fabrik am letzten Donnerstag beendet, doch die Beispiele der vergangenen Woche haben Schule gemacht. Überregionale Zeitungen berichteten auf ganzen Seiten von den »neuen Konfliktmethoden«, die vielerorts spontanen Zuspruch bei den Beschäftigten finden - bei Unorganisierten übrigens mehr als bei Gewerkschaftern.