Vertragsabschluss zwischen Frankreich und Korsika

Auf dem Weg zur Kastanienrepublik

Korsika steuert ins neoliberale Europa der Regionen: Die Sezessionisten haben Paris einen Vertrag abgerungen, der weitgehende Autonomie-Rechte enthält.

Gänzlich unbescheiden gab man sich am vorletzten Wochenende in Corte, der größten Stadt des korsischen Berglands. Redner forderten »die Zerschlagung Frankreichs, des rückständigsten Nationalstaats Europas«. In einem anderen Debattenbeitrag hieß es: »Man muss die République Fran ç aise auseinanderfallen lassen, sie hat keine Daseinsberechtigung mehr.« Doch die sich hier versammelten, waren keine radikalen Gegner von Staat und Nation. Im Gegenteil sähen sie sich nur zu gerne als deren Gründer.

Die »Internationalen Tage von Corte«, die seit 1981 jährlich im August stattfinden und zu denen in diesem Jahr rund 1 000 Teilnehmer kamen, sind das große Stelldichein der korsischen Nationalisten. Heuer kam ihnen über das traditionelle Zusammentreffen hinaus eine besondere Bedeutung zu. Konnten doch die korsischen nationalistischen Bewegungen wie Corsica Viva, Corsica Nazione und A Cuncolta diesmal einen beispiellosen Erfolg feiern. Am 28. Juli hatte die korsische Territorialversammlung in Ajaccio einer Vereinbarung mit der Zentralregierung zugestimmt, in der Paris auf wesentliche Forderungen der Sezessionisten eingeht.

Es handelt sich nicht um den ersten Versuch der Regierung, mit einem Maßnahmenkatalog die Lage auf der Insel zu beruhigen und die korsischen Nationalisten von ihrem Lieblingssport abzubringen, von der Plastiquage - dem Gebrauch von Plastiksprengstoff. Doch während die früheren Verhandlungen die militanten Nationalisten ausgeklammert hatten, wurden die Repräsentanten ihres so genannten politischen Arms ab 1999 einbezogen. Dieses Lager konnte bei den Territorialwahlen vor einem Jahr 16,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und ist nun, mit Corsica Nazione als stärkster Gruppe, im Regionalparlament vertreten.

Die Pariser Regierung hatte bei den Verhandlungen im Frühjahr klargemacht, bis wohin sie zu gehen bereit war - bis zu einer weitgehenden Dezentralisierung und einer Verlagerung technischer Kompetenzen »im Rahmen der Republik«, aber prinzipiell zu keiner Übertragung politischer Souveränitätsrechte. Die korsische Territorialversammlung sprach sich am 10. März ebenfalls in diesem Sinne aus. Der Antrag wurde getragen von den in Korsika außerordentlich starken Linksliberalen der Radikalen Partei, der Kommunistischen Partei sowie dem größten Teil der Gaullisten des RPR.

Auf der Gegenseite standen der Präsident des Regionalparlaments, José Rosse, und seine ultraliberalen Parteifreunde von der Démocratie Libérale (DL) sowie ein Teil der lokalen bürgerlichen Rechten und die korsischen Nationalisten, die sich mit Rosse zu einer dauerhaften Koalition in der Frage des Korsika-Statuts zusammengefunden haben.

Doch schon am 12. Juli kippte die Mehrheit in der korsischen Territorialversammlung. Als es zur Abstimmung über die zwei Tage zuvor von der Jospin-Regierung auf den Tisch gelegten Vorschläge zum Abschluss der Verhandlungen ging, segnete eine Mehrheit von 42 der 51 Abgeordneten zwar den Großteil der Punkte ab, beharrte aber nun auf der Übertragung weiter gehender politischer Souveränitätsrechte, auf einer »Gesetzgebungs-Vollmacht« für das korsische Parlament. Dies würde aber - so steht es im von den Abgeordneten angenommenen Text - eine Änderung der französischen Verfassung erfordern.

Der Mehrheitswechsel kam zustande, weil die lokale Basis der konservativen Rechten - des RPR - sich nun gegen die Linie der nationalen Instanzen der Neogaullisten stellte und ins Lager derer überlief, die die volle Autonomie fordern. Nur die meisten Linksliberalen und die Kommunisten stimmten gegen die neue Mehrheit.

Schon bald nach dem Votum von Ajaccio gab das Jospin-Kabinett in den beiden zentralen Punkten nach. Nun ist ein Übergangsprozess in zwei Phasen vorgesehen. Eine erste Phase bis nach den nächsten französischen Parlaments- und Präsidentenwahlen 2002 soll im Wesentlichen der Übertragung von Verwaltungs-Vollmachten an Ajaccio gewidmet sein. Steuererleichterungen und Investitionsanreize sollen aus Korsika eine nicht erklärte Sonder-Wirtschaftszone machen.

In einer zweiten Phase, von 2002 bis 2004, soll Frankreichs Verfassung geändert werden, um auch weiter gehende Souveränitätsrechte »im Rahmen der Republik« und gesetzgeberische Kompetenzen auf das Inselparlament zu übertragen. Voraussetzung dafür ist einerseits die Auswertung einer Bilanz jener Vollmachten, die Ajaccio bereits ab Ende 2000 oder 2001 »auf experimenteller Ebene« zugestanden werden sollen. Gleichzeitig muss die Gewalt auf der Insel beendet worden sein.

Dieses politische Verhandlungsergebnis stellte beide Seiten zufrieden - nicht jedoch den französischen Innenminister. Jean-Pierre Chevènement, Chef der linkspatriotischen Bewegung der Citoyens, hat bereits angekündigt, den Gesetzesvorschlag für die so genannte erste Phase der Reformen im Herbst 2000 nicht im Namen der Regierung vor dem Parlament zu verteidigen. Denn in seinen Augen stellt die Übertragung von Souveränitätsrechten einen Präzedenzfall für die Abkehr vom Universalismus dar, nach dem alle Staatsbürger vor dem Gesetz gleich sind.

Dass trotz der kontroversen Verhandlungen beide Seiten zufrieden waren, liegt daran, dass sie das vorläufige Ergebnis gegensätzlich bewerteten. Für Paris bedeutet das Abkommen, dass die Gewalt auf der Insel beendet werden muss, dass ein kontrollierter Prozess stattfinden und in den »Rahmen der Republik« gestellt werden soll.

Für die Nationalisten ist es nur der erste Schritt zur Unabhängigkeit. Und es bleibt, wie Jean-Guy Talamoni, der Fraktionsvorsitzende von Corsica-Nazione, am 28. Juli erstmals deutlich machte, nur ein »Vorabkommen«, solange nicht eine weitere Bedingung erfüllt ist: eine Amnestie für die Sprengstoff- und sonstigen Attentäter. In einer Rede vor dem korsischen Parlament erwies Talamoni denn auch den »Aktivisten, welche Form immer ihr Engagement angenommen haben mag«, und den »politischen Gefangenen« die Ehre. Zeichen einer Doppelstrategie von »militärischem« und »politischem Arm»? Oder nur Anzeichen der Mühe, sich von einer »heldenhaften« Vergangenheit loszusagen? Einer Vergangenheit, die man als »Widerstandskampf gegen den Kolonialstaat« verklärte, obwohl es sich oft um nicht mehr als ordinäre Fremdenfeindschaft handelte, wenn maghrebinische Immigranten zur Zielscheibe wurden?

Einer hätte wohl Mühe, sein Misstrauen gegen Talamoni zu verbergen: Jean-Michel Rossi. Der frühere Chefideologe der Nationalisten hatte sich ab 1998 zu ihrem Kritiker entwickelt. In seinem im Frühjahr 2000 gemeinsam mit Fran ç ois Santoni, einem weiteren Dissidenten, herausgegebenen Buch »Pour solde de tout compte« (Die Abrechnung), kritisierte Rossi, die Militanten verfolgten häufig unter dem Deckmantel angeblicher politischer Ziele mafiöse Interessen. Sein Urteil über Talamoni fiel wenig schmeichelhaft aus: Er stehe der extremen Rechte nahe, er sei ein Vertreter eines »ethnischen Nationalismus«. Von Rossi erfuhr man auch über Verbindungen des Corsica-Nazione-Politikers zum Chef der italienischen Lega Nord, Umberto Bossi.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1975 war die militante korsische Bewegung bemüht, sich einen mehr oder minder progressiven Anstrich zu geben. Sie stand im Bunde mit antikolonialen Kämpfen und wurde auch von Frankreichs radikaler Linker unterstützt. Dieses Image hat sich nun gewandelt. Zum Vorschein kommt die neue Form einer wirtschaftsliberalen Rechten, die sich prächtig in die aktuelle europäische Politik der Regionalisierung einpasst. Alain Madelin, der radikal wirtschaftsliberale Vorsitzende von Démocratie Libérale, hat bereits gefordert, das Modell Korsika auf sämtliche französischen Regionen zu übertragen und dem »jakobinischen Zentralstaat« den Garaus zu machen.

Rossi wird man zu diesen Themen nicht mehr befragen können. Er wurde am 7. August gemeinsam mit seinem Leibwächter beim Frühstück auf der Terrasse eines Cafés im korsischen L'Ile-Rousse ermordet. Die vier Täter gaben nicht weniger als 50 Schüsse ab. Obwohl sie unvermummt auftraten, konnten weder sie noch ihre Auftraggeber bisher identifiziert werden. Die Nationalisten weisen jeden Verdacht von sich und sprechen von einer »Manipulation«. In jedem Fall wirkt der Mord am Morgen nach den Triumphtagen von Corte wie ein böses Omen.