taz-Redakteurin Bettina Gaus zur Lage der Republik

Eine muss es sagen

Was fehlt? Die Streitkultur. taz-Redakteurin Bettina Gaus macht sich Gedanken zum Umbau der Republik.

In den Neunzigern hat sich auf dem Markt des Sachbuches das So-geht's-nicht-weiter-Genre durchgesetzt. Es lauert seitdem am Eingang jedes Buchladens. Und zwar »Weil das Land sich ändern muß«, wie die Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und ihre Mitautoren 1993 auf dem Buchdeckel forderten. Später war Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt »Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral«, dann wollte Bundespräsident Roman Herzog »Das Land erneuern«, und zwar mit »Reden zur Lage in Deutschland«. »Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert bekräftigte, was jeder Deutsche schon lange weiß: »Der Ehrliche ist der Dumme.«

Dass der sittliche Verfall unaufhaltsam fortschreitet, zeigt sich schon daran, dass taz-Redakteurin Bettina Gaus jetzt einen Aufruf zur Umkehr geschrieben hat. Ihre Autorität in solchen Fragen scheint verbrieft. Sie saß bereits mehrmals im »Presseclub« der ARD. Sie hat außerdem von 1996 bis 1999 das »Parlamentsbüro« der taz geleitet und gibt deshalb in ihrem Buch unentwegt damit an, sich in den innersten Zirkeln der Macht auszukennen. Was Bettina Gaus umtreibt, ist der Verlust an »Streitkultur»: »Nicht die Kontroverse, sondern der Konsens ist das Zauberwort der Zeit (...). Je bedeutsamer politische Fragen sind, je mehr sie unmittelbar in das Leben der Bevölkerung eingreifen, in desto stärkerem Maße werden sie inzwischen dem Parteienstreit entzogen.« Symptome dieser tragischen Situation entdeckt sie überall: »Im politischen Raum herrscht Sprachlosigkeit, und sie findet ihre Entsprechung in privaten Gesprächen. Engagierte Auseinandersetzungen über Themen, die über den unmittelbaren Lebensumkreis hinausreichen, werden anders als früher auch im persönlichen Umfeld gern vermieden.«

Für den Verlust der Streitkultur - der Klappentext bläst dies gleich zum »eigentlichen Skandal der Bundesrepublik« auf - sind die üblichen Verdächtigen verantwortlich, darunter: »eine als Liberalität getarnte Abwehr gegen jeglichen Wertekanon«, die Parteien als bloße »Verwalter der Macht«, die wachsende »Distanz zwischen Regierenden und Regierten«, voreiliges »Vertrauen in Fachleute«, die »Anbetung des Götzen Sachzwang«, die »Inszenierung von Politik«, »Worthülsen aus dem politischen Sprachbaukasten«, »der große Einfluss der verschiedenen Lobbygruppen«, eine »angewiderte Öffentlichkeit« und natürlich: die »Politikverdrossenheit«.

Maßgeblich verursacht wird das Verschwinden der Streitkultur durch die schamlose Vermählung von Politik und Medien. Es ist nämlich so: »Die politische Bühne degeneriert zur Zirkusarena«, weil Politiker und Journalisten einen »missbräuchlichen Umgang miteinander« treiben. Das liegt daran, dass die beruflichen Ideale nicht mehr beachtet werden. Die der Politker seien so festgelegt: »Eine Einstiegsvoraussetzung für den Beruf des Politikers ist eine feste persönliche Überzeugung und der Wunsch, Anhänger und Mitstreiter für diese Überzeugung zu gewinnen. Darüber hinaus bedeutet die Arbeit per definitionem Dienst an der Allgemeinheit.« Journalisten hingegen werden »eigentlich dafür bezahlt«, die Arbeit der Politiker »zu kontrollieren und mit dem größtmöglichen Bemühen um Objektivität zu beurteilen«.

Diese Ideale werden täglich in den Schmutz getreten: Politiker benutzen Journalisten fortwährend als Briefträger für »gezielte Indiskretionen«. Häufig werden Pressekonferenzen veranstaltet, die keinen Nachrichtenwert haben: »eine Verhöhnung der Öffentlichkeit«, die den »Überdruss am politischen Tagesgeschäft« befördern. Die so genannaten »Hintergrundgespräche«, zu denen einflussreiche Politiker ausgewählte Journalisten häufig einladen, dienen oft nur dem Zweck, Vertraulichkeit herzustellen. Bisweilen blickt man einfach nicht mehr durch: »Wir Journalisten dienen oft als willfährige Instrumente interessierter Kreise, ohne es auch nur zu merken, häufiger noch, ohne zu wissen, für welches mittelfristige Ziel wir gerade eingespannt werden.«

Das alles zahlen die Jounalisten den Politikern aber ordentlich heim. Erstens sind die Journalisten immer überall. »Auf die Gestaltung von Politik sind die Auswirkungen der medialen Omnipräsenz verheerend.« Einst hätten Wolfgang Schäuble und andere Teilnehmer eines Gespräches über Steuerreformen durch eine Hintertür vor Journalisten fliehen müssen. »Eine für beide Seiten entwürdigende Szene. Wie sollen Leute zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn sie nach einer Arbeitssitzung nicht einmal Zeit haben, ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie einem Pulk von Kameras gegenüberstehen.« Solche Gemeinheiten sind kein Kavaliersdelikt: »Pressefreiheit bedeutet nicht, jene Institutionen und Personen, die Gegenstand der Berichterstattung sind, daran zu hindern, ihre Arbeit zu tun.«

Während Politiker und Journalisten einander zum Schaden des Gemeinwesens an der Ausübung ihrer wahren Berufungen hindern und stattdessen in einem »System gegenseitiger Gefälligkeiten« (Klappentext) verharren, wende sich die »angewiderte Öffentlichkeit« von ihnen ab und zum Beispiel den Naziparteien zu. Weil die Bevölkerung von den etablierten Parteien »nur noch als Stimmvieh missbraucht« werde, wohne einem solchen Protest »durchaus ein demokratisches Element inne - auch wenn er sich in Unterstützung für eine undemokratische Partei äußern sollte«.

All diesen aufgeblasenen Unfug, der so oder sehr ähnlich schon tausendfach zu lesen war, möchte Gaus natürlich als knallharte und schonungslose Kritik verstanden wissen. In Wirklichkeit ist sie, wie alle Querdenker, eine Betriebsnudel der Neuen Mitte. Dort gilt, wer verständig an der »Sympathiekurve des Bundeskanzlers« oder am »Erscheinungsbild der Regierung« herummäkelt, als kluger Kopf. Ebenfalls Pluspunkte bringt eine konstruktive Politikberatung, bei Gaus etwa der Vorschlag, den deutschen »Nationalfeiertag« auf jenes Datum zu verlegen, »an dem die Bewohner der DDR die Mauer überrannten«.

Auch Spott, an die Adresse der Mächtigen adressiert, das weiß man seit Tucholsky, ist ein probates Mittel der Kritik. Eine Diskussion über deutsche Zahlungen an die Europäische Union fasst Gaus deshalb elegant zusammen: »Die Bundestagsdebatte wurde zu einem überaus amüsant zu beobachtenden Eiertanz, bei dem die Hauptredner große Aufmerksamkeit darauf verwandten, in den eigenen Reihen kein unwilliges Murren laut werden zu lassen.«

Ein echter Gradmesser für intellektuelle Qualität ist außerdem die Fähigkeit, provozierende Fragen zu stellen: »Warum erweckt Norbert Blüm, auch dem Urteil von Gegnern zufolge, noch nach Jahrzehnten den Eindruck, redlich zu sein, lebensfroh, neugierig auf seine Umwelt und fähig zu menschlichem Mitgefühl?« Brillant gefragt, weil: »Die Fragen bleiben offen. Vielleicht gibt es auch in der Politik einfach Glückskinder.« Es lässt sich eben nicht alles inszenieren.

Nicht schaden kann jemandem, der sich unbedingt als Querdenker ausweisen möchte, ein Schuss Philosophie: »Zeit ist immer ein allzu knappes Gut. Sie muss ökonomisch eingesetzt werden.« Und außerdem: »Ohne die prinzipielle Bereitschaft zum Kompromiss ist Politik nicht zu gestalten.« Diese Bemerkung ist so blöde wie wichtig. Sie steht - in einem durchaus sozialpsychologischen Sinn - als Code für das Unbehagen des Milieus, in dem Bettina Gaus zu Hause ist und bleiben will. In der aktuellen Regierungskoalition haben die Grünen nichts zu bestellen und müssen alles mitmachen, gleichzeitig zürnt der eigene Anhang den Parteioberen ob des Verlustes an Profil.

In ihrem Manifest für mehr Streitkultur bezieht die Autorin nur sehr selten und andeutungsweise politische Position, sie zählt aber eine Reihe von Themen auf, die unbedingt kontrovers diskutiert werden sollen: u.a. die künftige Rolle des Militärs, die Zukunft des Nationalstaats in der EU, die Frage der sozialen Gerechtigkeit, die Zukunft von Arbeit und Beschäftigung. Da allen klar ist, dass diese Fragen ohne Zutun der Grünen und der taz-Redakteurin entschieden werden, möchte man zum Lohn fürs Mitmachen wenigstens als seriöser Gesprächspartner hofiert werden. Insofern sind die Forderung nach Streitkultur, nach mehr »Parteienstreit« und der Appell an die Bereitschaft zum Kompromiss auf eine paradoxe Art identisch.

Dass das Buch der überzeugten Journalistin auch als eine der letzten Antworten des grünen Milieus auf die eigene Marginalisierung zu lesen ist, zeigt sich durchgängig in jener geradezu schleimigen Affirmation, die nie die Zwecke, sondern nur das Management des »politischen Alltagsgeschäfts« zum Streitobjekt machen will. Besonders schön scheint der völlige Verzicht auf politische Opposition dort auf, wo Gaus zum einzigen Mal visionär wird. »Man stelle sich vor«, so Gaus, die Amtszeit von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern werde zu Gunsten einer stärkeren Personalrotation limitiert und die Stimmenquote für die Parlamentspräsenz der Parteien von fünf auf zwei Prozent gesenkt: »Die Politik würde lebendiger, lebensnäher, mutiger, phantasievoller.« Eine musste es ja mal sagen.

Bettina Gaus: Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur. DVA, Stuttgart/München 2000, 183 S., DM 34