Beta-Blocker, Version 3.0

Start Up - die Apologeten der Internet-Ökonomie treffen sich in Berlin zur großen Konferenz. Die Kritik wird frei Haus mitgeliefert.

Das Internet, schrieb Robin Detje zum Jahreswechsel, komme ihm manchmal vor wie »die Rache der Jungs mit den dicken Brillen«. Weil früher in der Schule nie jemand mit ihnen zu tun haben wollte, hätten sie als Übersprungshandlung so lange an ihren Maschinen herumgetüftelt, bis niemand mehr daran vorbeikam und sich notgedrungen zähneknirschend dem Primat der Technokraten beugen musste. Da ist mit Sicherheit etwas dran.

Der Auftritt des Nerds auf der Bühne der Weltgeschichte war ein überraschender Dramaturgieeinfall und traf viele völlig unvorbereitet. Wer hätte ernsthaft daran geglaubt, dass aus den hospitalistischen Technikbastlern binnen eines Jahrzehnts umschwärmte Multimillionäre werden, die für Werbung posieren und in Talkshows mit agitatorischen Reden der lahmarschigen Politik auf die Sprünge helfen wollen? Die Sexywerdung des Nerdischen in allen Industrienationen zählt auf den ersten Blick vielleicht zu den nachhaltigsten kulturellen Umbrüchen der vergangenen Jahre.

Doch selbst wenn Cargo-Hosen und lange Haare längst keinen Unternehmer mehr schrecken - eher im Gegenteil -, sind es nicht mehr die Freaks und Tüftler der Anfangsjahre, die die Geschicke der digitalen Ökonomie lenken. In der zweiten Stufe zeigt sich, dass Managementqualitäten das schiere Technikverständnis überformen. Wenn es darum geht, einer Idee ein Businessmodell überzustülpen, haben die Jungs mit den dicken Brillen nichts mehr zu melden.

Dem soziologisch geschulten Blick allerdings entgeht nicht, dass hier zwei völlig unterschiedliche Typen am Werk sind. Manche ehemaligen Nerds - siehe Bill Gates - haben den »Bitflip« (eine Persönlichkeitsveränderung um 180 Grad, wie dem Hacker-Dictionary »Jargonwatch« zu entnehmen ist) hinbekommen, aber im Kern sieht die neue internetgestützte Gesellschaftselite anders aus als die diejenigen, die ihre Produktionsmittel erfanden. Sie sieht aber auch - zumindest in den USA - anders aus als die alte Gesellschaftselite.

Beta-Version 3.0

Ist das World Wide Web also noch immer anarchisch-utopistisch? Natürlich, meint Gabriele Fischer, die Chefredakteurin des New-Economy-Magazins Brand eins. Warum? Weil die Folgen des Internet-Einsatzes »traditionelles Wirtschaften radikal verändern«. Also heißt der neue Mensch künftig Yettie - young, entrepreneurial, tech-based - und ist »hoch flexibel, risikofreudig und vor allem auf sich selbst bezogen«, wie Soziologieprofessor Günther Voß von der Technischen Universität Chemnitz erklärt. Das Revolutionäre: Die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ein Yettie lässt sich nicht ausbeuten, er beutet sich selbst aus. Er bastelt Internet-Kaufhäuser und stylt Website-Werbung, immaterielle Arbeit, 70 Stunden die Woche, zwischen Red-Bull-Dosen und Heizungskeller.

Wie das am besten funktioniert, können die modernen Weltverbesserer am kommenden Wochenende im Berliner Haus der Kulturen der Welt lernen: BerlinBeta-Version 3.0 »thematisiert die Revolution, die sich derzeit in Wirtschaft und Gesellschaft und deren medialen Schnittstellen vollzieht«, verspricht die Ankündigung der dreitägigen Konferenz. Panels und Key Notes, sprich Podien und Referate zu allem, was der neue Start-Up-Mensch braucht: »Interface Design, Finance, Urban Drift, Digital Video/Film und Net Business«. Fragestellung beim Re:Build The Interface Experience: »Gibt es ein Leben jenseits der Desktop-Metapher?« Kulturelles Begleitprogramm inbegriffen. Und weil Beta-Version, immer offen für Verbesserungen.

»Berlin ist ein kreativer Ballungspunkt. Hier kann man mit Kompetenz und Engagement mehr erreichen als anderswo, da sich hier die Hierarchien ständig verschieben«, erklärt Veranstalter Marc Wohlrabe. Apropos: Zum Abschluss, am Sonntag, »ein Blick zurück nach vorn - auf die anarchische Seite des Netzes«. Mit Rainer Langhans, München.

Rifkins Welt

Neues Wirtschaften: In der New Economy werde der schnelle Zugriff auf Ideen, Güter und Dienstleistungen wichtiger als der Besitz schwerfälliger Dinge, schreibt der US-amerikanische Trendforscher Jeremy Rifkin in seinem neuen Buch »Access. Das Verschwinden des Eigentums«. Das habe fundamentale Auswirkungen: Besitz wird nicht mehr ausgetauscht, sondern von den Kunden auf der Basis von Mitgliedschaften, Leasing- und Lizenzverträgen genutzt. Während man also in der traditionellen Ökonomie schuftete, um Autos, Waschmaschinen oder eine Eigentumswohnung zu erwerben, betrachten die Akteure der New Economy materielles Eigentum als eine überflüssige Last. Leasen statt kaufen, nutzen statt besitzen.

Beispielhaft zeigt sich diese Entwicklung zwischen alter Ökonomie und neuen Formen des Kapitalismus in der Auseinandersetzung um Napster oder, noch fortgeschrittener, um Gnutella. Diese Programme ermöglichen das kostenlose herunterladen von Musikdateien - sehr zum Entsetzen der Musikindustrie, die sich dadurch in ihrer Existenz bedroht sieht. Ähnliche Software für Bild- und Filmdateien ist ebenfalls bereits entwickelt.

Was sich zunächst wie ein schnöder Streit um Lizenzen und Copyright anhört, könnte sich jedoch bald als Kampf zweier unterschiedlicher Systeme entpuppen. Das neue Zeitalter mit seinen hochentwickelten Informations- und Kommunikationstechnologien unterscheidet sich von der Marktwirtschaft ungefähr im selben Maße wie die Marktwirtschaft vom Merkantilismus, schreibt Rifkin. Die elektronischen Tauschbörsen seien heute vielleicht nur eine Randerscheinung. Doch schon bald könne ein Großteil der Wirtschaft nach der Logik dieses neuen Marktes funktionieren. Idee, Wissen und die UMTS-Frequenzen, die erst kürzlich in Deutschland für 100 Milliarden Mark versteigert wurden, scheinen mehr wert als Güter und materielle Waren.

Hippies und Popper

Der Raum des Immatriellen war in den USA zunächst das (Business-)Medium der Außenseiter, Randständigen und Marginalisierten. Die, die nichts zu verlieren hatten, versuchten ihr Glück im Netz: Ein Fehlschlag mehr oder weniger - was soll's? Viele Ex-Hippies gehören heute zur Liste der Superreichen, ebenso wie nicht wenige Immigranten.

In dem kürzlich in den USA erschienen Buch »Bobos in Paradise - The New Upper Class and How They Got There« beschreibt der Journalist David Brooks mit feinem Gespür diesen Ablösungsprozess. »Bobos« steht für Bourgeoise Bohemians und meint jenen neuen Menschenschlag, der nicht qua Geburt und familiärer Herkunft sondern qua Ausbildung und Unangepasstheit ins Establishment vorgerückt ist.

Brooks seziert die neuen feinen Unterschiede und invertierten Statussymbole, mit denen die Bobos sich Distinktion verschaffen. Die Adaption europäischer Kaffeehauskultur durch Ketten wie Starbucks habe die klassische Unterscheidung zwischen Bourgeoisie und Boheme verwischt. Tatsächlich sei eine gewisse Anti-Establishment-Haltung heute geradezu Voraussetzung, um als legitimes Mitglied der Bildungselite zu gelten - mit den entsprechenden Konsequenzen fürs Konsumverhalten.

Verschwenderischer Konsum ist verpönt und gilt als banausisch, es sei denn, er lässt sich über einen professionellen Anspruch legitimieren. »Es ist vollkommen akzeptabel, Unmengen von Geld für alles auszugeben, was von professioneller Qualität ist, selbst wenn es nicht das geringste mit der eigenen Profession zu tun hat«, schreibt Brooks.

Unerotische Deutsche

Waren es in den USA die Drop-Outs, die erste Geschäfte im Netz machten, sind es in Deutschland die Popper, für die sich Subkultur im alldonnerstäglichen After-Work-Club erschöpft. »Die BWLer übernehmen das Netz«, schlug kürzlich die Zeitschrift de:bug Alarm, die sich immer noch standhaft um die Reste von Kultur hinter den elektronischen Lebensaspekten verdient macht. Ganz klar, um an Venture Capital zu kommen, empfiehlt es sich, wie der perfekte Schwiegersohn auszusehen und den entsprechenden familiären Background vorzuweisen.

Wenn der deutsche E-Commerce überhaupt ein Gesicht hat, so ist es das Strebergesicht von Max Cartellieri, seines Zeichens Gründer von Ciao.com und Sohn des Deutsche-Bank-Aufsichtsratsmitglieds und CDU-Schatzmeisters Ulrich Cartellieri. Über ihn schreibt die Financial Times Deutschland: »Wer Cartellieri und seinesgleichen trifft, wird sich bewusst, wie weit Amerika weg ist. Deutsche Start-Up-Chefs brauchen weder Verführung noch Vision, ihre Geschäftsideen übernehmen sie (wie Ciao.com) aus den USA. Dafür besuchten viele von ihnen Elite-Unis, etliche haben reiche Eltern. Der Chef des Handy Auktionshauses 12snap heißt Michael Birkel und ist Sprößling der Nudel-Dynastie; Christoph Mohn, Sohn des Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn, ist Chef von Lycos. Das Personal der neuen Wirtschaft ist das Personal der alten.«

Der klangvolle Name gepaart mit der beim Auslandsstudium an der Elite-Uni aufgeschnappten Geschäftsidee: eine sichere Nummer! Und alt aussehen in der New Economy - das geht ohne weiteres.

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Schön blöd, wer heute noch eine CD oder ein Auto sein eigen nennt. Aus Märkten, wo die Kunden ihre Waren an geographisch festgelegten Orten erwerben, werden schwerelose Netzwerke, in der sich die schleichende »Entmaterialisierung« des Geldes und des Besitzes vollzieht. Der von Ort und Zeit unabhängige Kapitalismus könnte dadurch eine neue, bisher unbekannte Dynamik entfalten.

Mit dem Ende des Industriezeitalters verändern sich aber nicht nur die Formen, sondern auch die Inhalte der Produktion. Nicht mehr die Verarbeitung der materiellen, sondern die Ausbeutung der kulturellen Ressourcen wird zur entscheidenden Frage des neuen Kapitalismus. Und wer den Zugang zu den Kommunikationskanälen kontrolliert - wie etwa das Anfang des Jahres durch Fusion entstandene Medienunternehmen AOL/Time Warner - könne auch entscheidenden Einfluss auf die Inhalte nehmen.

Darin sieht Rifkin die größte Gefahr. »In der neuen Welt finden kommerzielle Aktivitäten 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche statt.« Sie umfassten alles, was bisher noch der Sphäre des Privaten zugeordnet wurde. Alles, was der Mensch braucht, wird nur noch als bezahlter Service zu erhalten sein. »Die kapitalistische Reise endet mit der Nutzbarmachung der menschlichen Natur selbst«, schreibt er in einem seiner unzähligen Artikel. Die neuen Kräfte des »kulturellen Kapitalismus« könnten die verbliebenen kulturellen Ressourcen verschlingen, »indem diese Überbleibsel wieder verpackt werden in kurzlebige, kommerzielle Unterhaltungsartikel, bezahltes Amüsement und gekauftes Spektakel«. Der Zukunftsforscher sieht daher eine vollkommene »Ökonomisierung des Menschen, seiner Beziehungen und seiner Bedürfnisse« heraufziehen. Eine »Devolulation der Zivilisation«. Kurz: den totalen Markt.

Chancen und Risiken

Kein Frage, Jeremy Rifkin ist selbst ein Produkt der New Economy und gleichzeitig ihr profiliertester Vordenker. Sie lebt gerade davon, dass sie nicht mehr die heile Welt verspricht und den naiven Fortschrittsglauben des Industriezeitalters hinter sich gelassen hat. Und wie kein zweiter beherrscht der Trendforscher Rifkin den Gestus des »sowohl-als-auch«. Seine These, der Kommerz verschlinge die Kultur, kommt auch dem bügerlichen Kulturpessismus entgegen. Seine Analyse, dass die digitale Revolution die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert, erfreut hingegen die linken Kritiker. Schließlich weiß auch Rifkin, dass sich die Welt in zwei ungleiche Zivilisationen teilt: diejenigen, die im Cyberspace leben, und die, die draußen bleiben.

Die neue Ökonomie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Kritik gleich mit adaptiert. Stets ist dafür von den Chancen und Risiken zu erfahren, und natürlich von den Lösungen, die es gibt. Fundamentale Kritik ist längst Bestandteil eines ausdifferenzierten Apparates geworden, der von seinen Gegnern noch immer gerne mit dem Schlagwort Neoliberalismus bezeichnet wird. Doch in diesem Begriff liegt eine Sehnsucht nach früheren klareren Verhältnisse verborgen, die nicht mehr existieren.

Der Vorstandsvorsitzende, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit Adorno zitiert, ist heute keine Seltenheit mehr. Kein Minister und kein Feuilletonist, der nicht über die Gefahren der neuen Entwicklungen spricht und gleichzeitig betont, dass keine Alternativen existieren. Sie haben die Kritik als einen weiteren produktiven und identitätsstiftenden Faktor in den Apparat integriert, weil sie diese Kritik - abgesehen von ihren Schlussfolgerungen - als zutreffend betrachten.

Kritik

Und so liefern auch die Events die Kritik gleich mit, innovativ, dynamisch, preiswert. Expo 2000: Die Agenda 21 wird zum Hype, die Internationale Frauenuniversität sorgt für feministische Zutaten, NGOs fordern sanfte Erneuerung. Die BerlinBeta präsentiert Kapital und Kulturrevolte, Podium und Party gleich im Gesamtpaket: »Tagsüber sollen aktuelle Themen besprochen werden, abends kann man Geschäfte machen.«

Bei Club-Events und Filmfestival, so erklärt Veranstalter Stephan Balzer, »mischt sich das Business-Publikum mit den reinen Kino- und Partygängern«. Diesseitiges und Jenseitiges, mit Techno und Kultfilm. Zur Eröffnung bietet man Kanak Attak von Lars Becker. Im Programm des kongresseigenen »P&S Music Departement»: Atari Teenage Riot. Die Combo dürfte was Innovatives zu liefern haben. Der letztjährige Auftritt auf dem Lautsprecherwagen der autonomen 1. Mai-Demontration verschaffte der Band hippe Video-Aufnahmen von prügelnden Polizeibeamten auf Kreuzberger Straßen, untermalt mit aggressivem Techno-Trash.