20 Jahre Solidarnosc

Schöner wohnen auf der Lenin-Werft

20 Jahre Solidarnosc: Die einzige Arbeiterorganisation, die erfolgreich die Selbstaufhebung des Proletariats umgesetzt hat, feiert Geburtstag.

Streikrecht, Pressefreiheit, Amnestie für die politischen Gefangenen, Lohnerhöhungen, Herabsetzung des Rentenalters, bezahlter Mutterschaftsurlaub, freie Samstage - was hatten sie nicht alles ins Programm geschrieben. Wie der Forderungskatalog einer sozialdemokratischen Partei im 19. Jahrhundert lasen sich die 21 Danziger Forderungen, die Solidarnosc im August 1980 der Warschauer Regierung vorlegte.

Und doch schrieb die polnische Gewerkschaftsbewegung Geschichte gegen eine regierende kommunistische Partei, der diese Forderungen aus der Arbeiterbewegung bestens vertraut waren. Als der ehemalige Oppositionsführer Lech Walesa im Juli im Berliner Haus am Checkpoint Charlie an den großen Streik auf der Danziger Lenin-Werft erinnerte, wollte er in diesen Kämpfen sogar den Beginn des Weges zur deutschen Einheit erkennen.

Mit seiner Unterschrift unter das Danziger Abkommen, das Walesa im Auftrag des überbetrieblichen Streikkomitees vor genau 20 Jahren unterzeichnete, wurde erstmals eine staatsunabhängige Gewerkschaft in einem realsozialistischen Land zugelassen. Die Konsequenzen: Orientiert an katholischen Glaubensgrundsätzen, konnten sich über zehn Millionen Menschen, also über 50 Prozent der Beschäftigten, zunächst legal in der Solidarnosc organisieren. Noch zehn Jahre zuvor hatte die polnische Miliz auf der Lenin-Werft ihre Gewehre auf streikende Arbeiter gehalten. 80 Menschen starben.

Doch die Unterschrift von Vizepremier Mieczyslaw Jagielski neben Walesas Namen an jenem 31. August 1980 war zunächst die Tinte nicht wert, mit der sie geschrieben wurde. Die im Danziger Abkommen zugestandenen Freiheiten ließen auf sich warten, und auch die wirtschaftliche Situation in Polen spitzte sich weiter zu. Die Solidarnosc-Aktivisten behandelte man noch immer als antisozialistischen, von westlichen Agenten dirigierten, umstürzlerischen Haufen.

Dann kam der 13. Dezember 1981. General Jaruzelski rief das Kriegsrecht aus, ließ Panzer rollen und sperrte Hunderte von Gewerkschaftern, Intellektuellen und Studenten in Gefängnisse. Solidarnosc wurde verboten, die Gewerkschaft tauchte ab.

Erst sieben Jahre später, im politischen Klima der Gorbatschow-Ära, begann eine neue Runde der Kommunikation. 1988 bat die Regierung Walesa um Hilfe. Er sollte streikende Arbeiter beruhigen. Die beiden wichtigsten politische Akteure setzten sich an einen Tisch und handelten den historischen Kompromiss aus, der zum so genannten Umsturz führte. Aus ersten Wahlen im Jahr 1989 ging Solidarnosc als Siegerin hervor, im Dezember 1990 gewann Walesa die Präsidentschaftswahlen.

Die Hardliner des Staatskommunismus hatten recht behalten. Solidarnosc als politische Macht anzuerkennen, bedeutete das Ende der Volksrepublik Polen. Und obwohl die Solidarnosc im Laufe der achtziger Jahre nie die Privatisierung der Produktionsmittel gefordert hatte, war der von der Organisation angestrebte bürgerliche Pluralismus nur auf Grundlage einer privatkapitalistischen Eigentumsordnung zu haben.

Am Ergebnis gemessen, hat die von der Mehrheit der Arbeiter in Gang gesetzte Wende die Mehrheit der Arbeiter in eine seit 50 Jahren nicht gekannte Armut gestoßen. Die Danziger Lenin-Werft, 1980 Zentrale der Streikaktivisten, 1981 Versammlungsort für den ersten Kongress einer unabhängigen Gewerkschaft, soll in absehbarer Zeit zu einem Vergnügungs- und Kulturpark umgebaut werden. Wo einst das Proletariat für den sozialistischen Plan schuftete, werden schon bald Luxus-Apartments entstehen. Ein bezeichnendes Bild: Zwischen Flanier-Boulevards und Nobelwohnung bekommt die Solidarnosc ein Museum.

Was den ehemaligen Arbeitern der legendären Werft natürlich wenig nützt. Nur noch 3 000 der einst 20 000 Beschäftigten sind der Werft erhalten geblieben. Sie fahren nach Gdynia, auf die andere Seite der Mottlau. Dort werden weiter Schiffe gebaut. Das aber unter schlechteren Bedingungen als die, gegen die Solidarnosc einst gekämpft hatte. Lohnerhöhung, Rente mit 55, freie Samstage sind zu nostalgischen Träumen geworden.

Dennoch nutzen einige den 20-jährigen Geburtstag zu überschwänglichen Feiern und brachialer Revolutionsromantik. Die Gazeta Wyborcza, die »Wahlzeitung«, gegründet als Sprachrohr der Solidarnosc zum Wahlkampf 1990, ist heute die größte polnische Tageszeitung. Wieder ist Wahlkampf. Wieder ist Lech Walesa angetreten. Und so reist Gazeta Wyborcza auf Promo-Tour durch alle großen Städte des Landes. Jugendliche dürfen ihre Polit-Graffiti auf Pappwände sprayen, kleine Jungs bestaunen die prämodernen Fahrzeuge der Volkspolizei und des Sicherheitsdienstes, die über den Marktplatz gerollt werden.

Werbung auch auf der anderen Seite: Ein altes Aufklärungsflugzeug fliegt im Halbstundentakt über die Danziger Innenstadt und lässt Lotto-Lose vom Himmel fallen - in Erinnerung an die von der Propagandaabteilung während Demonstrationen abgeworfenen Flugblätter. Die sozialdemokratisch gewendeten Postkommunisten möchten so darauf hinweisen, dass sie selbst 1990 am historischen Kompromiss beteiligt waren und auch ohne Solidarnosc Reformen eingeleitet hätten.

Geschichte wird gemacht. Auch durch die Gründung eines »Instituts des nationalen Gedenkens«, bei dem unter anderem die deutsche Gauck-Behörde Pate stand. Die Behörde soll Akten der alten polnischen und sowjetischen Sicherheitsdienste archivieren und aufbereiten. Verfolgte und Sich-verfolgt-Fühlende können beantragen, ihre Dossiers einzusehen. Eine Gruppe von Staatsanwälten soll Verfahren gegen ehemalige Mitarbeiter der Sicherheitsorgane anstrengen und diese vor Gericht bringen. Mit dem Institut will man, so das Ziel, der Wahrheit durch wissenschaftliche Forschung ans Licht verhelfen.

Bisher wurden die Akten im Wesentlichen für die Lustracja, die Durchleuchtung der Vergangenheit, verwendet. Vor dem Lustrationsgericht musste sich am 11. August selbst Walesa prüfen lassen. Das Ergebnis: Freispruch. Wie auch dem amtierenden Präsidenten Aleksander Kwasniewski war Walesa vorgeworfen worden, die Lustrationserklärung falsch ausgefüllt, sprich Kontakte zum ehemaligen polnischen Sicherheitsdienst verschwiegen zu haben.

Hohe Staatsdiener und solche, die es werden wollen, kommen nicht umhin, eine solche Erklärung abzugeben. Oder sie kommen in den Verdacht, dem alten »Unrechtsstaat« gedient zu haben. Ein Vorgehen, das zumindest in Deutschland gut ankommt: Martin Ludwig etwa pocht in der FAZ auf die »Erinnerung an den kommunistischen Terror« und die »geistige und moralische Hygiene der Gesellschaft« und hält es für »spannend«, ob durch die Maßnahme die »Verbrechen an den ukrainischen und deutschen Zivilisten ('Volksdeutsche')« vielleicht doch noch gesühnt werden könnten.

Praktizierte Totalitarismustheorie gehört auch zum Programm im neu gegründeten Institut nationalen Gedenkens. Die Akten der von 1945 bis 1998 bestehenden Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen gegen die polnische Nation, Zentralbehörde zur juristischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Verbrechen während der Okkupationszeit, wurden gleich von der Einrichtung übernommen. Und so kommen dann alle Unrechtsregime unter ein gemeinsames Dach.