Lockerung des Asylrechts

Ohne Staat verfolgt

Das Asylrecht wird gelockert. Doch nach dem Karlsruher Urteil kann künftig auch schneller abgeschoben werden.

Rechtsanwälte mit afghanischen Mandanten können sich freuen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, künftig »quasi-staatliche« Verfolgung anzuerkennen, befreit sie aus der Not, ihren Klienten erklären zu müssen, warum die Taliban-Regierung sie gar nicht verfolgt hat. Zumindest nicht im asylrelevanten Sinne.

Bis zur Entscheidung der Karlsruher Richter im August galten für afghanische Flüchtlinge die Grundsatzurteile des Berliner Bundesverwaltungsgerichts, das den regierenden Taliban trotz 90prozentiger Gebietshoheit keinen »staatsähnlichen« Charakter zusprechen wollte. Asylrelevante Verfolgung jedoch - so will es das deutsche Asylrecht - kann nur von staatlichen Strukturen ausgehen. »Staatsähnliche« Verfolgung erkennt es nur dann an, wenn die verfolgenden Institutionen »als Vorläufer neuer oder erneuter staatlicher Strukturen« erkennbar sind. Was für Flüchtlinge aus Afghanistan bedeutete, dass ihr Asylverfahren schon mit der Antragstellung verloren war - selbst wenn sie glaubhafte Belege für die erlittene Verfolgung vorlegen konnten.

Der gesetzgeberischen Unterscheidung zwischen staatlicher und staatsähnlicher Verfolgung ist es auch zu verdanken, dass bei zunehmender Brutalisierung der Verfolgungsmaßnahmen die Ablehnungsquote in Deutschland auf 100 Prozent stieg. Die meisten anderen europäischen Staaten kennen die deutsche Einschränkung nicht. In der Schweiz etwa, wo das Asylrecht in den vergangenen Jahren mehrmals verschärft wurde, lag die Anerkennungsquote von Afghanen 1998 bei 59,87 Prozent. Ähnliches gilt für nichtstaatlich verfolgte Flüchtlinge aus Somalia oder dem kurdischen Nordirak.

Selbst Österreich erkennt Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure als Asylgrund an. Seit Jahren schon fordern deshalb Menschenrechts-Organisationen eine grundlegende Revision des deutschen Asylrechts und seine Angleichung an international gültige Standards. Es könne nicht angehen, argumentiert beispielsweise der Sprecher des US-Committee for Refugees, Bill Frelick, dass sich Deutschland auf europäischer Ebene als ideologischer und bürokratischer Motor eines »harmonisierten EU-Asylrechts« geriere, grundlegende Standards der Genfer Flüchtlingskonvention aber weiterhin nicht in nationales Recht umsetze.

Daran ändert auch das Karlsruher Urteil nichts. Die Verfassungsrichter weisen lediglich einen Weg, wie sich die deutsche Rechtsprechung der zunehmenden ethnischen Homogenisierung von Nationalstaaten und der Schaffung neuer, substaatlicher Entitäten und Schutzzonen anpassen kann. Das deutsche Asylrecht steht damit aber weiterhin im Gegensatz zur Genfer Flüchtlingskonvention, orientiert es sich doch am Tatbestand erlittener oder zu befürchtender Verfolgung - und nicht am Verfolger.

In Frankreich hingegen erhielt ein von faschistischen Schlägern in Tschechien verprügelter Rom Asyl, weil der Staat, so das Urteil, »seiner Schutzpflicht nicht nachgekommen sei«. Ähnliche Urteile werden in Dänemark gefällt, wo Asyl auch dann gewährt wird, »wenn sich herausstellt, dass die Behörden im Herkunftsland nicht in der Lage sind, Schutz zu gewähren«. Eine solche Auslegung ist dem deutschen Asylrecht fremd. Der Schutz durch Asyl setzt hier nicht etwa automatisch ein, wenn ein Flüchtling verfolgt wurde, sondern dann, wenn die als quasi natürlich angenommene Bindung zwischen ihm und seinem Staat - durch die erlittene Verfolgung - zerrissen wurde.

Eine Angleichung an die Rechtsprechung in Frankreich oder Dänemark erscheint aber auch nach dem Karlsruher Urteil unwahrscheinlich. Denn für die deutschen Verfassungsrichter stellen sich Staaten ebenso wie staatsähnliche Gebilde als Zwangskollektive dar, die den Einzelnen »in ein übergreifendes, das Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes Herrschaftgefüge« einbindet, »welches den ihm Unterworfenen in der Regel Schutz gewährt«, ihn andererseits aber auch »aus der konkreten Gemeinschaft ausschließen« kann.

Mit dieser Formulierung hat Karlsruhe im Prinzip bekräftigt, dass sich Flüchtlinge nationalen Kollektiven zuordnen müssen, um Asyl zu erhalten. Die Neuerung besteht lediglich in der Aufnahme substaatlicher Akteure und Entitäten in diese Definition: Die im Urteil enthaltene Tautologie, wonach »politische Verfolgung grundsätzlich staatliche Verfolgung« sei, wertet die von Warlords und Parteien kontrollierten Territorien zu staatsähnlichen Gebilden auf, die diese de facto nicht sind. Mit staatsähnlicher Effektivität pflegen dort lediglich Geheimdienste und Todesschwadronen zu funktionieren, während es an einer intakten Wasserversorgung, Krankenhäusern oder Schulbüchern regelmäßig mangelt.

So deckt sich die Definition des höchsten Gerichtes mit dem verstärkten staatlichen Bemühen um eine »heimatnahe Flüchtlingsunterbringung« in Schutzzonen und nichtstaatlichen Enklaven. Sind somalische Stammesführer oder Taliban-Krieger erst mal als quasi-staatliche Akteure anerkannt, die ja nicht nur verfolgen, sondern auch Schutz gewähren können, ist zu befürchten, dass künftigen Rücknahme-Abkommen und Massenabschiebungen nichts mehr im Wege steht. Was von den Grünen bis zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) als Durchbruch in der deutschen Asylgesetzgebung gefeiert wird, stellt eigentlich nicht viel mehr als den richterlichen Vollzug einer ethnisierten Außenpolitik dar, die von der nationalstaatlichen Ordnung nur noch das Zwangskollektiv übrig lässt.

Für die Asylpraxis ist der Richterspruch dennoch ein Erfolg. Mit seiner Klage durch alle Instanzen hat der Frankfurter Rechtsanwalt Reinhard Marx nicht nur seinen afghanischen Mandanten ein Bleiberecht in der Bundesrepublik beschert, sondern ein Urteil erreicht, das alle vorherigen Verwaltungsgerichts-Entscheidungen praktisch aufhebt. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsgebieten kann sich dadurch berechtigte Hoffnung auf Anerkennung ihrer Asylanträge machen.