Historikertag in Aachen

Geschichte wird gemacht

Historikertag in Aachen: Während die Volks- und Kulturraumforschung der NS-Zeit zum Teil kritisch aufgearbeitet wird, hat sich die Osteuropa-Forschung diesem Ansatz zugewandt.

Die Geschichtswissenschaft kann Machtverhältnisse dekonstruieren. Johannes Fried, bis vor kurzem Vorsitzender des Verbandes der Historikerinnen und Historiker in Deutschland, beabsichtigte wohl das Gegenteil, als er ins Programmheft des 43. Deutschen Historikertages schrieb: »Es hat seinen guten Sinn, daß wir im Jahre 2000 inmitten einer europäischen Kernregion unseren Historikertag ausrichten. In Aachen, wenn irgendwo, wurde Europa geschaffen, hier, wenn irgendwo, verbanden sich mediterrane Hochkultur und nordalpines Erbe zu einer neuen, mächtig in die Zukunft wirkenden historischen Formation.« Er meint das Reich Karls des Großen, das er zur Vorform der europäischen Integration stilisiert und dem er eine »plastische Kraft« zuschreibt, die das heutige Kerneuropa geformt habe. Dazu passend zeigt das Emblem des Historikertages eine mit Krone und Kreuz versehene Karlsbüste. Es ist das Emblem eines Geschichtsverständnisses, demzufolge »Sinnstiftung« das Amt des Historikers sei.

Aus Aachener Sicht erscheint die Tagung als krönender Abschluss einer ganzen Reihe lokaler Großveranstaltungen, mit denen sich die Stadt als geschichtliches, kulturelles, politisches und religiöses Zentrum Europas in Szene zu setzen versucht, tatsächlich aber nichts weiter als einen Aufguss der rechtskonservativen Ideologie vom »christlichen Abendland« produziert. Der 1 200. Jahrestag der Kaiserkrönung Karls und der Erbauung des Aachener Doms, das 50. Jubiläum des Karlspreises und vor allem seine Verleihung an William Clinton hatten eine Karls-Euphorie ausgelöst, die mit dem Vorschlag der städtischen Kulturreferentin, in Aachen ein »europäisches Haus der Geschichte« in Form eines »Karlsmuseums« zu errichten, einen vorläufigen Höhepunkt fand.

Wäre Mythenbildung der Zweck eines Historikertages, Ort und Emblem hätten nicht besser gewählt sein können. Tatsächlich jedoch wurde der Aachener Karlskult gleich in einer der ersten Sektionen des Historikertages auseinander genommen. Der Kult diene dazu, eine Einheit Europas zu konstruieren, die es so niemals gegeben habe. Die alljährliche Karlspreisverleihung, die der Krönungszeremonie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nachempfunden ist, sei, so der Karlsruher Historiker Matthias Pape, die »kommunalpolitische Variante des mittelalterlichen Karlskultes«.

Der völlig unterschiedliche Umgang mit dem Karlsmythos auf dem Historikertag verdeutlichte die Schlüsselrolle der Geschichtswissenschaft bei der Erfindung und Vermittlung, aber auch der Dekonstruktion von Identitätsideologien. Gleich fünf von 26 Sektionen zu zeitgeschichtlichen Themen befassten sich - überwiegend kritisch - mit »Nation« und »nationaler Identität«, wohingegen so wichtige Bereiche wie die Holocaustforschung oder die Dokumentation der NS-Zwangsarbeit, von der die tatsächliche Auszahlung der Entschädigungen an die Überlebenden nicht unwesentlich abhängen wird, schlichtweg fehlten.

Wer die Sektion der Leipziger Osteuropa- und »Volksgruppen«-Forscher Stefan Troebst und Frank Hadler besuchte, konnte miterleben, wie man mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft Identität stiftet. Die Frage lautete, ob das Gebiet der künftigen EU-Osterweiterung trotz seiner »unbeständigen Grenzen« und »konkurrierenden Nationalgeschichten« nicht doch eine »kulturgeschichtliche Struktureinheit« sei. Man beantwortete sie auf sehr simple Weise, indem man die unbeständigen Grenzen und konkurrierenden Nationalgeschichten selbst zum »zentralen Strukturmerkmal dieser multiethnischen Geschichtsregion« erklärte und sie damit vom westlichen Europa abgrenzte, wo »Multiethnizität« lediglich in Ausnahmefällen wie Südtirol vorkomme.

So erzeugten die Leipziger Historiker die Vorstellung eines ethnisch und kulturell homogenen Mitteleuropa und einer von Rivalität und Konkurrenz dominierten östlichen Peripherie, die, so könnte man folgern, einer gewissen Führung bedürfe. Indem sie »Kultur« und unterschwellig auch »Ethnie« als Schlüsselkategorien anwandten, kamen Troebst und Hadler einem Forschungsansatz nahe, der wie kein anderer in die Kritik geraten ist: die so genannte Volks- und Kulturraumforschung.

Die Aufarbeitung der in den zwanziger Jahren von völkisch-nationalistischen Wissenschaftlern entwickelten Volks- und Kulturraumforschung war Gegenstand der mit Spannung erwarteten Sektion »Historiker im Banne der Vergangenheit« unter der Leitung von Hans-Erich Volkmann. Hatte diese Thematik auf dem vorangegangenen Historikertag in Frankfurt a.M. noch eine heftige Debatte ausgelöst, so zeichnete sich in Aachen ab, dass die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit von der Historikerzunft allmählich akzeptiert wird. Nach wie vor jedoch stellt sie das Bild, das die Geschichtswissenschaft von ihrer eigenen Geschichte vermittelt, radikal in Frage. Seit Mitte der neunziger Jahre haben engagierte Wissenschaftshistoriker wie Peter Schöttler, Ingo Haar, Bernd Faulenbach, Michael Fahlbusch und Willi Oberkrome nachgewiesen, wie sehr die Historikerzunft in die nationalsozialistische Volkstums- und Vernichtungspolitik verstrickt war.

Im Mittelpunkt des Interesses steht hierbei die Erforschung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und ihres Umfeldes. Dabei handelt es sich um ein in der Weimarer Republik geknüpftes und in der frühen Bundesrepublik wieder entstandenes Netzwerk von Historikern, Geografen und Kulturwissenschaftlern, die nicht nur die Volkstumspolitik des Deutschen Reiches identitätsstiftend flankierten, indem sie Volksgruppen und Kulturräume definierten, sondern in enger Zusammenarbeit mit den Planungsstäben der Ministerien, des Militärs, der Besatzungsbehörden und der SS die erforderlichen Daten für eine Neuordnung und »Entjudung« des unterworfenen »Lebenraumes« bereitstellten. Nahezu bruchlos gelang es den Volks- und Kulturraumforschern, sich selbst und ihre Disziplin in die Bundesrepublik hinüberzuretten.

Vertreter dieses Ansatzes spielten, wie Volkmann in Aachen ausführte, im Wissenschafts-Diskurs der Nachkriegszeit eine nicht unbedeutende Rolle. So zum Beispiel Hermann Aubin, der von 1953 bis 1959 auch den Historikerverband leitete. Andere »Volkstums«-Forscher wie etwa Franz Petri oder Franz Steinbach konnten ihren Einfluss im Forschungszweig Landeskunde geltend machen oder überführten wie Werner Conze den völkischen Ansatz in die moderne Sozialgeschichte.

Der einzige Versuch eines westdeutschen Volkstumshistorikers, sich mit dem eigenen Fach kritisch zu beschäftigen, scheiterte 1963. Die Rede, die er auf einer nichtöffentlichen Sitzung des Marburger Herder-Forschungsrates gehalten hatte, wurde als »vertraulich« eingestuft und aus dem Verkehr gezogen.

Was waren die Gründe für diese Kontinuitäten innerhalb der Volks- und Kulturraumforschung? Wie Willi Oberkrome auf dem Aachener Historikertag ausführte, prägte der »Glaube an eine fast ingenieurale Machbarkeit ganzer ethnopolitischer Ordnungssysteme« die Vorstellungswelt der akademischen Eliten nicht erst seit den zwanziger Jahren. Bereits im Zuge der Kriegszieldebatte im Ersten Weltkrieg hätten Historiker wie Friedrich Meinicke den Vorschlag einer Generalplanung Ost einschließlich der Entvölkerung und Neubesiedlung großer Regionen diskutiert. Dem Aufstieg der Volks- und Kulturbodenforschung sei eine »jahrzehntelange Ethnisierung der politischen Agenda« vorausgegangen; ein aggressiver »Ethnoradikalismus« habe die Eliten weitaus intensiver geprägt, als bislang angenommen.

Der Wiederaufschwung der Volks- und Kulturraumforschung in der Bundesrepublik hingegen sei, so Oberkrome, nicht allein auf die Konstellation des Kalten Krieges zurückzuführen. Er sei vielmehr Teil eines »germanisch-völkischen Rollbacks« in den späten vierziger und fünfziger Jahren gewesen. Gerade die »Landeskunde« mit ihrem völkisch-regionalistischen Ansatz stieß auf einen »deutschen Tribalismus«, der nicht nur dem regressiven Bedürfnis der Deutschen nach »Heimat« innerhalb einer Art Volksgemeinschaft im Kleinen entsprach, sondern der zugleich für sich in Anspruch nehmen konnte, im Verfassungsauftrag zu handeln.

Denn der - 1973 gestrichene - Artikel 99 des Grundgesetzes schrieb fest, dass die mögliche Neugliederung der unter alliierter Besatzung geschaffenen Bundesländer die »landsmannschaftliche Verbundenheit« und die »sozialhistorischen Zusammenhänge« wahren müsse. Unter dem Stichwort Föderalismus entstand ein wirkungsmächtiger Gegendiskurs zum demokratischen Verfassungsstaat, mit dem Ziel, die »regionale Selbstverwaltung« der »Volkstüme« und »Stämme« zu verteidigen. Im Bündnis mit der wieder erstarkenden Heimatbewegung und den regionalen Kulturverwaltungen konstruierten die Historiker der Landeskundlichen Institute nicht nur vermeintlich regionale, bäuerlich-patriarchale Lebenswelten, sondern zugleich deren moderne Variante: das im Zentrum der Industrialisierung entstandene »Ruhrvolk«.

Mit kritischer Rückschau nichts im Sinne hatte Johannes Fried. Er interessierte sich für die »systematischen Weiterungen«, die sich für sein Fach, nicht etwa aus der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern »aus den Ansätzen der zwanziger und dreißiger Jahren, ja möglicherweise aus bestimmten Aspekten der nationalsozialistischen Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung ergeben haben«.