Finanzskandal in Frankreich

Raue Sitten

Die Fünfte Republik durchlebt seit zwei Wochen ihre bisher schwerste Krise. Die auf Video festgehaltene »Beichte« des früheren Geldbeschaffers des neogaullistischen RPR, Jean-Claude Méry, hat die intime Verflechtung zwischen privaten Geschäftsinteressen, bürgerlichem Politikbetrieb und staatlicher Verwaltung deutlich aufgezeigt.

Besonders pikant ist dabei der Umstand, dass Méry von Michel Roussin, dem früheren Amtsdirektor im Pariser Rathaus unter Jaques Chirac, zu seinen illegalen Methoden angestiftet wurde. Damit ist der ehemalige Vorsitzende des RPR und derzeitige französische Staatspräsident selbst in den Finanzskandal verwickelt.

Roussin begann seine Karriere als Mitarbeiter des französischen Inlandsgeheimdienstes, wurde anschließend Berater des Konzernpräsidenten von Générale des Eaux (heute Vivendi) und stieg wenig später zum persönlichen Mitarbeiter Chiracs auf. Nicht nur dessen Partei, auch die Unternehmen profitierten von dieser engen Verflechtung zwischen Privatwirtschaft und Politik. Die beteiligten Firmen berechneten mitunter deutlich überhöhte Preise für die Aufträge der öffentlichen Hand. »Manchmal haben wir die Zügel fahren lassen, wenn es für uns interessant war«, beschreibt Méry diese Praxis.

Die Méry-Affäre zeigt die Rücksichtslosigkeit, die in der politischen Klasse herrscht. So hatte der Finanzexperte des RPR über fünf Monate in Untersuchungshaft zugebracht und den Knast anschließend als ruinierter Mann verlassen. Doch statt finanzielle Unterstützung zu erhalten, die ihm seine Parteifreunde zugesichert hatten, musste Méry anschließend um sein Leben fürchten. Mit seiner Video-Aussage versuchte er, einer möglichen »Beseitigung« vorzubeugen.

Aber die Parti Socialiste (PS) steht nicht besser da als ihre konservative Konkurrenz. Der frühere Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, der vor einem Jahr wegen eines anderen Finanzskandals zurücktreten musste, wusste bereits seit zwei Jahren von der Existenz des Videos, wie vergangene Woche bekannt wurde. Ein zwielichtiger Steueranwalt, Alain Belot, hatte ihm ein Exemplar der Aufnahme angeboten. Als Gegenleistung verlangte er eine Intervention zugunsten seines Klienten, des Modemachers Karl Lagerfeld, der damals mit Steuerschulden in Höhe von 300 Millionen Franc (50 Millionen Euro) belastet war. Ein Nachlass scheint tatsächlich gewährt worden zu sein - Strauss-Kahn erhielt jedenfalls eine Kopie des Videos.

Der ehemalige »Superminister« unter Lionel Jospin wurde im vergangenen Jahr noch als aussichtsreicher Kandidat für das Pariser Rathaus gehandelt. Er hätte den Skandal um den Chirac-Vertrauten rechtzeitig vor dem Wahlgang im März 2001 auslösen können. Nun sitzt Strauss-Kahn selbst in der Klemme. Nach dem Gesetz hätte er den Erhalt des Videos umgehend den Behörden mitteilen müssen. Seine fadenscheinige Entschuldigung: Er habe die Aufnahme gar nicht angesehen, sondern die Kassette weggeräumt und anschließend vergessen.

Ein Wandel des politischen Systems, wie etwa in Italien nach den Korruptionsaffären von 1992, scheint dennoch unwahrscheinlich. Der aktuelle Skandal basiert auf alten Finanzierungsmethoden der Parteien vor 1990. In den folgenden Jahren wurden die juristischen Bestimmungen geändert, um den Parteien eine legale Finanzierung zu ermöglichen.

Und auch die gespaltene und geschwächte extreme Rechte ist derzeit wohl kaum in der Lage, von der Affäre zu profitieren. Zu viele Details über die diktatorische Herrschaft des Familienclans Le Pen wurden in den letzten Jahren bekannt, als dass sich die Neofaschisten heute noch mit einer weißen Weste präsentieren könnten. Ein glücklicher Umstand - denn sonst wäre den Rechtsextremen der Sprung über die Zwanzig-Prozent-Marke so gut wie sicher.