Schlimmer als Schwarzfahren

Gefährliche Orte CXVII: Eine städtische Befreiungsaktion brachte die Justivollzugsanstalt Plötzensee in der letzten Woche um ihre friedlichsten Gefangenen.

Die Boulevardreportermeute, die am frühen Samstagmorgen vor den Toren der JVA Plötzensee auf Beute lauerte, ging leer aus. Was die Yellow-Press-Vertreter zu sehen bekamen, waren nur ein verschlossenes Gefängnistor, eine an einem Bäumlein aufgehängte Bierdose und ein paar in der Gegend herumliegende, leergetrunkene Schnapsfläschchen. Vom Justizsenat angekündigt worden war zwar die Entlassung von bis zu 200 Strafgefangenen aus der Haft, doch der Gefängnispförtner erklärte auf Nachfrage, dass die allermeisten von ihnen »schon seit ein paar Tagen« auf freiem Fuß seien.

»Berlin: Zellen voll, 200 Verbrecher frei!« hatte sich Anfang letzter Woche der Berliner Kurier auf seiner Titelseite empört, nachdem die Senatspläne für die städtische Gefangenbefreiung bekannt geworden waren. Um welche Art »Verbrecher« es sich dabei jedoch handelte, ging erst aus dem Kleingedruckten hervor, wo die angstvoll prophezeite Verbrecherflut ungeahnten Ausmaßes als ein harmloses Häuflein so genannter »Kleinkrimineller« enttarnt wurde.

Sollte rund 150 Spitzbuben, die ihre Form des zivilen Ungehorsams sonst unbemerkt im Stillen zelebrieren, endlich die lang ersehnte öffentliche Anerkennung zuteil werden? All die Ladendiebe, Scheckfälscher, Versicherungsbetrüger, Sitzblockierer, Falschparker und Schwarzfahrer also, als »Verbrecher« geschmäht, die kleinen Helden des Alltags, die wahren Widerständler - endlich auf freiem Fuß?

Auch wenn sie keiner zu sehen bekam, rückte die wegen Überfüllung der Berliner Gefängnisse beschlossene Haftentlassung mehr als zwölf Dutzend Männer für einige Tage tatsächlich ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Und das zu Recht: Die oft gutherzigen und freundlichen Leistungserschleicher und Vermögensumverteilungsexperten, die auf ihre Art den unbarmherzigen Betrieb der kalten Geld- und Warentauschgesellschaft ein wenig zu ihren Gunsten beeinflussen, haben sich schließlich höchstens beim Drehen eines kleinen Dings erwischen lassen. Irgendwann einmal wurden sie zu einer Geldstrafe verurteilt, konnten diese aber nicht bezahlen - oder wollten es einfach nicht. Wer könnte ihnen das übel nehmen? Wozu eine hohe Geldstrafe berappen, wenn der Staat nicht nur genug Geld hat, sondern es einem frecherweise noch täglich aus der Tasche zieht? So denken diese schlauen Kerls, und Recht haben sie. Und am Ende heißt es dann für viele: Gehe in das Gefängnis. Begib Dich direkt dorthin. Bis Du wieder entlassen wirst.

Leider, leider wurden die Häftlinge aber gar nicht »freigelassen«, wie es der Kurier in seiner Story behauptete, nein, der an ihnen verübte Freiheitsentzug wird lediglich für ein Jahr unterbrochen. »Vollstreckungsunterbrechung« heißt das in schönstem Amtsdeutsch. Mit möglicherweise unschönen Folgen: Sollte einem der mobilen Häftlinge innerhalb dieser Zeit im Kaufhaus unerlaubter Weise ein Paar Socken in die Einkaufstüte rutschen, müsste er schnurstracks zurück in den Kerker. Es sei denn, er kann die verhängte Geldbuße bezahlen. Wer kein Geld hat, wird wieder eingesperrt. Mit Freilassung hatte die Aktion also wirklich nichts zu tun.

Wie Karsten Ziegler, Sprecher der Berliner Justizverwaltung, erklärt, handelt es sich bei den vorläufig Entlassenen um Leute, die »dem Bereich der Kleinkriminalität und der mittleren Kriminalität« zuzuordnen seien und bei denen man die Besorgnis hege, dass sie sich im Gefängnis von anderen Häftlingen »infizieren« und zu weit schlimmeren Taten als Sockenklau anstiften lassen. Auf die Frage, welcher Art die Vergehen denn seien, für die diese Leute verurteilt worden sind, erläutert Ziegler, es handle sich hauptsächlich um »Straftaten wie Diebstahl, Unterschlagung und Betrug«. Ob Schwarzfahrer auch darunter gewesen seien? »Ja, auch Schwarzfahrer.«

Die Entlassung, die mit liberalem Amnestieschnickschnack nichts zu tun hat, solle eine einmalige Aktion bleiben. Es handelt sich dabei lediglich - und darauf legt der Behördensprecher wert - um eine Maßnahme der Berliner Justiz, mit der in den überbelegten Haftanstalten Platz für künftige Verurteilte geschaffen werden solle.

Dabei hat die große Koalition doch schon längst vorgesorgt, wie Zieglers stolzer Verweis auf die neue Haftanstalt in Spandau belegt. Weitere Zahlungsunwillige und andere Delinquenten könnten in einigen Jahren schon im brandenburgischen Großbeeren einsitzen.

An Knästen schließlich soll's in der Hauptstadt nicht mangeln. Wo kämen wir denn da hin? Und wozu eigentlich noch Haftverschonung, wenn es zum Strafen und Vollziehen demnächst wieder genug Zellen gibt?

Darüber hinaus gebe es ja noch die Möglichkeit, jemanden seine Strafe in Form von »gemeinnütziger Arbeit« verbüßen zu lassen. »Zwangsarbeit«, weiß Ziegler, sei dies aber nicht, denn »Zwangsarbeit gibt es in Deutschland nicht«. Wenn es aber nun notorisch unbelehrbare Querulanten gibt, die partout auch die Arbeit verweigern und bei denen nichts hilft, weiß auch der Justizsprecher nicht weiter. »Wenn Sie einen derart renitenten Verurteilten haben, der darauf besteht, seine Strafe abzusitzen«, so müsse man ihm das wohl oder übel gewähren. Da stehen sie nun im Gerichtssaal, die Verbrecher, und geben immer noch Widerworte. Wollen sich lieber auf der Zellenpritsche lümmeln als die Mülleimer im Stadtpark leeren.

Die leeren Branntweinfläschchen, die vor dem Anstaltseingang auf dem Bürgersteig liegen, sind vermutlich die Relikte der ersten spontanen Feier eines Kleinganoven nach seiner Haftentlassung. Es könnte aber auch sein, dass mancher Justizvollzugsbeamte vor Dienstbeginn zur Stärkung ab und zu einen zur Brust nimmt. Oder, wenn der Tag lang und anstrengend war, auch mal am Feierabend. Zumindest die Namen der diversen Schnäpse, die »Wurzelpeter«, »Zielwasser« und »Züchtergold« heißen, deuten darauf hin.