Friedliche Koexistenz

So rasch wie dem Aufstand der Amtseid Kostunicas folgte, dürfte auch die Isolation Jugoslawiens beendet werden.

Am Ende ging alles ganz schnell. Belgrad, 5. Oktober 2000, 15.17 Uhr. Ein bärtiger Mann beugt sich vor zu seinem Kumpel, zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf. »Milosevic sollte doch bis drei Uhr zurücktreten. Worauf warten wir noch?« fragt er einen Reporter, der ihm inmitten von Zehntausenden Demonstranten ein Mikrofon vors Gesicht gehalten hat.

Dieselbe Frage werden sich in diesen Minuten im Zentrum von Belgrad viele gestellt haben - ohne lange auf eine schlagkräftige Antwort zu warten. Noch vor 16 Uhr stürmt der erste Trupp Protestierender auf das Parlamentsgebäude los, scheitert aber am bewaffneten Widerstand der Polizeibeamten. Doch der zweite Anlauf klappt: Steine fliegen, wütende Jugendliche erklimmen die Stufen des Parlaments und ziehen triumphierend in das Gebäude ein, an allen Polizisten vorbei. Um 16.10 Uhr schon steigen die ersten Rauchwolken aus dem Hohen Haus, keine zwanzig Minuten später hat auch die zweite Stütze des Regimes von Slobodan Milosevic Feuer gefangen: Demonstranten haben mit einem Bagger die Eingangshalle zum Staatsfernsehen RTS zertrümmert und das Hochhaus angezündet. Belgrad brennt.

Abgefackelte Autos, kaputte Fensterscheiben und eine halbe Million Menschen auf den Straßen komplettieren das Bild, das Fernsehkommentatoren und Staatsmänner am vergangenen Donnerstag mit aller Macht heraufbeschworen: 1989, Prag, Ceausescu. »Das letzte Stück der Mauer« gar soll an diesem Tag in Belgrad gefallen sein, kommentierte der deutsche Außenminister Joseph Fischer den Aufstand.

Doch nicht das endgültige Ende des Staatssozialismus gab es vergangene Woche zu bejubeln, sondern einen zweifellos bedeutsamen Wechsel an der Spitze der Belgrader Eliten. Die erste europäische Revolte seit 1989 aber dauerte keine sechs Stunden. Um 21.30 Uhr, das Feuer in den unteren Geschossen des Staatsrundfunks ist inzwischen gelöscht, tritt ein RTS-Sprecher vor die Kamera, um das Ende der publizistischen Kumpanei mit Milosevic zu verkünden. So einfach kann Demokratie sein. Zwei Stunden später sitzt hier der Führer der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS), Vojislav Kostunica, und beansprucht den Posten des jugoslawischen Staatschefs für sich. Was für Milosevic galt, gilt jetzt auch für ihn: Der Präsident darf ausreden, nachgefragt wird nicht.

Mit den Worten »Es ist besser für Sie, die Wahlniederlage anzuerkennen, als die Gefahr offener Auseinandersetzungen zu riskieren«, hatte Kostunica den Umsturz eingeleitet, als er Milosevic Anfang letzter Woche das Ultimatum stellte, bis Donnerstag, 15 Uhr, zurückzutreten. Dank der geballten Macht der Straße ging das Drohszenario auch auf. Milosevic gratulierte dem neuen starken Mann schon am Tag nach dem Aufstand zu seinem Wahlerfolg, den zunächst nicht einmal das jugoslawische Verfassungsgericht anerkannt hatte. »Wegen Unregelmäßigkeiten« sollte der Urnengang lediglich wiederholt werden, ehe die Richter ihr Urteil revidierten. Schon am Wochenende war damit der legale Rahmen geschaffen, um Kostunica im frisch zusammengesetzten Parlament zu vereidigen.

Dass die Amtsübergabe am Schluss glatter und schneller über die Bühne ging als in jeder anderen parlamentarischen Demokratie, dürfte nicht zuletzt Milosevics Verdienst sein. Der Mann, der mit der Einführung der Direktwahl seine persönliche Abwahl im Sommer selbst ermöglicht hatte, präsentierte sich bei seinem vorläufigen Abschied als Musterdemokrat und künftiger Privatmann. »Wegen des Endes der großen Verantwortung, die ich für ein ganzes Jahrzehnt trug, plane ich persönlich, mich ein wenig auszuruhen und etwas mehr Zeit mit meiner Familie und insbesondere meinem Enkel Marko zu verbringen«, sülzte er die Fernsehzuschauer zu wie vor ihm Oskar Lafontaine.

Im Gegensatz zum entmachteten Linksaußen der politischen Klasse in Deutschland dürfte Milosevic eine Fortsetzung seiner Karriere aber durchaus beschieden sein - wenn nicht Nato-Sondereinheiten aus Bosnien oder dem Kosovo eines Tages doch noch versuchen sollten, den vorm Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Angeklagten zu verhaften. Aber das erwartet kaum jemand, forderte letzte Woche doch selbst der Uno-Beauftragte für den Balkan, Jerzy Dienstbier, freies Geleit für Milosevic. Und auch der Hinweis von Bundeskanzler Schröder, über eine Auslieferung müsse Jugoslawien selbst entscheiden, lässt es plausibel erscheinen, dass der Westen auf eigene Aktionen zur Festnahme des Ex-Präsidenten verzichten will.

Und auch sonst könnte sich der lang ersehnte Abgang des »Belgrader Diktators« (Bundesaußenminister Fischer) noch als Beginn einer politischen Regenerationsphase für die entmachteten Sozialisten erweisen. Gemeinsam mit der Jugoslawischen Linken (JUL) seiner Frau Mirjana Markovic verfügt Milosevics Sozialistische Partei (SPS) weiterhin über eine satte Mehrheit im serbischen Parlament. Ein Glücksfall für Milosevic ist auch der Passus in der jugoslawischen Verfassung, der vorschreibt, dass der Ministerpräsident im neu gewählten Bundesparlament aus Montenegro kommen muss. Da die Gegner des gestürzten Präsidenten in der kleinen Teilrepublik die Parlamentswahlen am 24. September boykottierten, kommt nur ein Verbündeter Milosevics für den Posten an der Spitze des Kabinetts in Frage: aller Voraussicht nach Predrag Bulatovic, Zweiter Vorsitzender der Sozialistischen Volkspartei Montenegros (SPN).

Der gnadenlose Legalist Kostunica, dem der Amtseid wichtiger war als der Aufstand, wird sich mit einer friedlichen Kohabitation nach französischem Vorbild abfinden müssen, wenn er die von ihm so schnell gestoppte Revolte in verfassungskonforme Bahnen lenken will. Und selbst wenn er das nicht wollte, dürften ihm wegen des wachsenden Einflusses der Europäischen Union kaum andere Optionen bleiben. Schon am kommenden Wochenende möchten ihn die EU-Staatschefs bei ihrem Gipfel im französischen Biarritz offiziell auf die Demokratisierung Jugoslawiens nach westlichem Vorbild verpflichten. Vier Milliarden Mark Soforthilfe hat der EU-Kommissionsvorsitzende Romano Prodi Jugoslawien bereits Anfang dieser Woche zugesagt, bürokratische Schritte zur Aufhebung der Sanktionen wurden am Montag in Brüssel ebenfalls vorbereitet. Alles, was dem »Ende der Isolation« (US-Präsident William Clinton) noch im Wege stehen könnte, ist eine offene Kooperation Kostunicas mit den Sozialisten.

Die Befürchtung, Kostunica könnte sich auf eine friedliche Koexistenz mit Milosevic geeinigt haben, dürfte auch den Präsidenten Montenegros, Milo Djukanovic, bewogen haben, seinen Kollegen in Belgrad nicht anzuerkennen. »Kostunica kann unser Gesprächspartner nicht als jugoslawischer Präsident, sondern nur als Vertreter neuer demokratischer Gedanken in Serbien sein.« Der Zögling Milosevics und Günstling des Westens glaubt, dass Kostunica die Vormachtstellung Serbiens in der jugoslawischen Föderation nicht antasten will. »Die Haltung Kostunicas zu Montenegro unterscheidet sich nicht sehr von der bisherigen Haltung Belgrads«, pflichtete Djukanovics Vize-Premier Dragis Burzan seinem Chef am Wochenende bei. Da nützte es auch nichts, dass Kostunica die Aussöhnung Serbiens mit Montenegro zuvor als »Aufgabe aller Aufgaben« bezeichnet hatte.

Denn auf die von Podgorica geforderte Gleichberechtigung innerhalb des Bundesstaates ging der neue Präsident nicht ein, die von Djukanovic bereits vor einem Jahr propagierte »Plattform« war kein Thema seiner Antrittsrede. Djukanovic hatte eine Neuregelung der bundesstaatlichen Verhältnisse zur Bedingung für den Verbleib Montenegros in Jugoslawien gemacht.

Zwar scheint die Gefahr eines Bürgerkrieges durch die geregelte Machtübergabe und die Verpflichtung des jugoslawischen Generalstabs auf den neuen Präsidenten vorerst gebannt. Aber das von Djukanovic angedrohte Unabhängigkeitsreferendum könnte die Zerstörung Jugoslawiens noch vollenden. Schließlich ging auch in Belgrad letzte Woche alles ganz schnell.