»Kritik und Klinik« von Gilles Deleuze

Die Vermögen der Literatur

In seinem Aufsatzband »Kritik und Klinik« prüft Gilles Deleuze literarische Methoden auf ihre Guerillatauglichkeit.

Als Gilles Deleuze sich 1968 gegen eine Philosophie des Ewigen oder der Geschichte aussprach, um der Philosophie die Aufgabe der Sensibilisierung für das »Unzeitgemäße« zuzuteilen, war ihm bewusst, dass diese Wendung gegen ein Denken der Identität und des Widerspruchs zu Gunsten eines Denkens der Differenz nicht ohne weiteres davor gefeit sein würde, von augenzwinkernder Affirmation oder theoretischem Quietismus vereinnahmt zu werden. Es war unter dem Impact der Ereignisse des Jahres nicht schwer, mit der Losung etwas anzufangen, die Deleuze, genau gegen diese Haltungen gerichtet, ausgab: »Jeder Gedanke wird zur Aggression.« Vier Jahre später findet diese Idee ihren Ausdruck im Stil des gemeinsam mit Félix Guattari verfassten »Anti-Ödipus« - ein Buch, das dieses Problem kaum mehr darstellt, sondern vielmehr dramatisiert.

Der jetzt in deutscher Übersetzung erschienene Aufsatzband »Kritik und Klinik« ist - 1993, also zwei Jahre vor dem Tod Deleuzes erschienen - das letzte Buch des französischen Philosophen. Ein möglicher Zugang zu diesen Aufsätzen erschließt sich aus dem Interesse an der Art und Weise, wie sich ein Schreiben durch politische Kämpfe affizieren lässt, für die es empfänglich geworden ist. Weniger deshalb, weil Deleuze in seinem Buch Texte versammelt hat, die im Zeitraum von dreißig Jahren entstanden, teilweise schon veröffentlicht (der früheste 1963) und immer wieder, zuletzt für diesen Band, überarbeitet worden sind, sodass wie in einer Schichtenabfolge Genesen, Begegnungen und Wiederaufnahmen in der Produktion von Deleuze abzulesen sind. Aber es geht Deleuze natürlich nicht darum, einen Ereigniszusammenhang durch einen Geschichtszweck oder einen Ursprung zu monumentalisieren.

Das Problem, dem sich das Buch widmet, ist die Literatur oder besser das Schreiben. Es handelt sich jedoch um keine Literaturtheorie. Vielmehr zeigt Delezue anhand der Texte von literarischen und philosophischen Autoren wie Melville, Jarry, Nietzsche, Platon, T.E. Lawrence, Roussel etc., welche unterschiedlichen Verfahren wirksam werden, um dem benutzten Ausdrucksmaterial, der Sprache, neue Kräfte zu entlocken.

Für Deleuze ist Literatur zunächst eine Art und Weise, in die Sprache einzugreifen. Die Sprache wird angegriffen, sagt er, die Muttersprache zersetzt. Darin zeigt sich, was Schreiben vermag. Diese Zerstörung will auf ein Anders-Werden der Sprache hinaus, und in diesem Anders-Werden selbst besteht das Verfahren. Die Verstümmelung der Syntax - bei Deleuze gehen Morphologie und Phonologie in der Syntax auf -, das Zerbrechen der wohltemperierten Ordnung von Zeit und Syntax wird zur syntaktischen Schöpfung, ohne die die Sprache leblos bleibt.

Die Literatur muss ihre Zeichen aber erst erzeugen; solche, die sich als Anzeichen dessen eignen, was noch nicht wahrgenommen werden konnte und herausgefiltert werden muss, der Weg in die nächste oder, schlimmer noch, entfernteste Falle vielleicht oder der nach draußen. Die Grenze von Sprache und Zeit bildet für Deleuze ein Außen, in dem die Empfindung aufhört, passiv zu sein.

Es wäre falsch, anzunehmen, hiermit sei die Tatsachenfeststellung vom »Tod des Autors« verbunden, wenngleich diese Vermutung nahe liegt, da Deleuze sich für die Autoren im Grunde nur als Namensgeber ihrer Verfahren interessiert. Aber diese Verfahren verfolgen ihren eigenen immanenten Plan, indem sie den Autor jeweils neu zum Verschwinden bringen; ihn jeweils neu bekämpfen, indem sie ihn seines Kommunikationsmittels enteignen, um Sprache als Material freizusetzen. Und dieses Material entwickelt sein Vermögen, sich affizieren zu lassen. Deleuze nähert sich diesem Problem in den Kapiteln des Buches immer wieder auf unterschiedliche Weise und entwirft so ein Bild des Schreibens, in dem die Elemente oft aggressive Verbindungen gegeneinander eingehen.

Deleuze zeigt, dass sich die Kräfte des Schreibens, das Vermögen der Literatur nur durch ihre Verwicklung in Kämpfe, nicht zuletzt in Kämpfe mit sich selbst, entwickeln: Sei es, wenn Deleuze sich gegen das juridische Modell der Kritik wendet, sei es, wenn er bei T. E. Lawrence, dem »ersten großen Theoretiker der Guerilla«, feststellt, wie der Guerillakampf und das Schreiben zwei Modi eines sich im Vollzug erzeugenden Lebens werden. Die Guerilla triumphiert nicht, sondern verschwindet nach der Aktion, und sie entwickelt ein Wissen von der Bedeutung der Niederlage, das ihre Kraft bilden wird. In der Zerstreuung verliert sie ihre Einheit nicht, wie das Militär, sondern gewinnt in jedem Augenblick so viele und so beschaffene Einheiten, wie es der Anzahl der Versprengten entspricht bzw. wie es die Situation erfordert.

Deleuze zeigt bei T. E. Lawrence, wie der Affekt der Schmach, von dem Autor und Held bestimmt sind, im Schreiben eine Desintegration der Wahrnehmung und der Fabulation provoziert, die in ihren unmittelbaren Konsequenzen jener Zerstreuung entspricht. Der beschämte und erschöpfte Körper wird angetrieben von einer Vielzahl erst jetzt wahrnehmbarer Affekte, die es ihrerseits erlauben, die Kräfte der Situation für das Schreiben aufzunehmen. Wahrnehmung und narrative Schilderung werden zu Elementen eines Gefüges von Wirkungen, das im Inneren der Wiedererkennung virulent wird.

Es ist hier erneut die Sensibilisierung für diejenigen Kräfte, die sich noch kaum bemerkbar machen und der Wiedererkennung zwangsläufig entgehen, weil sie noch nicht in Formen verinnerlicht sind, und die Fähigkeit sie in ihrer Singularität zu monumentalisieren, um sie spürbar zu erhalten, die das Vermögen des Schreibens für Deleuze ausmachen. Das Schreiben zeigt seine Kraft in der Diagnose von Symptomen.

Die literarische Äußerung ist Diagnostik, aber zugleich ihr Objekt: hierauf bezieht sich die Äquivokation im Titel des Buchs. Es richtet sich gegen eine Auffassung von Kritik, die ihren Ursprung in einem juridischen Modell findet, in welchem die Schuld des Zeitlichen immer wieder gegen die Ewigkeit einer göttlichen Gerechtigkeit ausgespielt wird. Und es wendet sich gegen eine klinische Betrachtungsweise des Schreibens, die es einer pathologischen Systematik unterwirft, indem sie es auf eine kranke oder gesunde Schöpfersubjektivität bezieht: Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand, Richter und Pathologe - dieser Zusammenhang von Kritik und Klinik, der sich in den Institutionen des Staates wiedererkennt und von ihm aus gutem Grund geduldet wird. Das Schreiben, das durch diese Kritik bestätigt wird, ist aber tatsächlich nichts anderes als ein Fall jenes objektiven Wahnsinns, in welchem der entsprungene Irrenhausinsasse bei Kierkegaard befangen ist, der seine Vernunft dadurch beweisen zu können meint, dass er immer dann, wenn ihn eine bei seiner Flucht in die Rocktasche gesteckte Kegelkugel am Hintern trifft, ausruft: »Bum, die Erde ist rund.«

Es ist für Deleuze hingegen ein Zeichen von Gesundheit, wenn Schreibende, obwohl angegriffen von diesem Wahn, ihm dennoch nicht verfallen, sondern aus ihrer Zerrüttung heraus die Diagnose seiner gegenwärtigen Gestalt stellen können. Diese Diagnose ist aber nicht deren Spiegelbild. Sie bezeichnet vielmehr die Position flüchtiger Kollektive als Reaktion auf variable Kräfteverhältnisse, die im Inneren positiv oder negativ anerkannter Totalitäten wirken, anstatt sich im Heroismus des zum Untergang verurteilten Mahners aufzugeben, der tragischen Identifikationsfigur nationaler Gemeinschaften. Sie ist als Dramatisierung zu verstehen, ist kein Zusammenhang repräsentativer Zeichen, sondern ein Gefüge aktiver und heterogener Gegenverwirklichungen, eine Verkettung kollektiver Kräfte.

Indem Deleuze hier Henri Bergsons Fabuliertrieb und Nietzsches Dramatisierungsmethode zusammenbringt, bildet er den schwierigen Begriff der »Erfindung eines Volkes, das fehlt«. Dieses kleine Kollektiv ist nicht a priori gegeben oder maßgeblich definiert, auch nicht Objekt eines Willens. Vielmehr ist es unfertig, unfassbar, von einem Revolutionär-Werden ergriffen, virtuell.

Die Provokation des Ausdrucks in der Sprache erschöpft sich nicht im Formalismus. Der der Sprache abgewonnene Ausdruck bestreitet nicht das Sein des Autors, um statt seiner das der Sprache zu befestigen. Die Sprache bleibt in der Literatur geöffnet und in Bewegung; diese Öffnung und diese Bewegung werden von den kleinen Kollektiven verkörpert. Somit sind sie gewissermaßen die andere Seite der Sprache, die sich der politischen Wahrnehmung öffnende. Das literarische Verfahren läuft schließlich auf diese Bewegung des Sich-Öffnens hinaus. Sie ist »eine Krankheit, ist Krankheit schlechthin, sobald (sie) eine Rasse erstarken lässt, die rein und beherrschend sein soll. Aber (sie) ist das Maß der Gesundheit, wenn es jene bastardhafte und unterdrückte Rasse geltend macht, die sich stets unter den Beherrschungen regt, allem widersteht, was erdrückt und einsperrt, und sich reliefartig in der Literatur als Prozess abzeichnet.«

Aber wie läuft die Kritik bei Deleuze? Er hat immer wieder betont, wie wichtig Spinoza für ihn sei. So ist es wohl kein Zufall, dass ein Kapitel über Spinoza dieses Buch von Deleuze über die Vermögen des Schreibens oder der Literatur beschließt. Die Lektüre der »Ethik« Spinozas, die hier auf wenigen Seiten entfaltet wird, ist eines der bemerkenswertesten Kapitel in diesem Band. Durch seine Prägnanz empfiehlt es sich gewissermaßen als Leitfaden oder Matrix für das Verständnis des kritischen Verfahrens, das in »Kritik und Klinik« wirksam wird, und sollte vielleicht als erstes gelesen werden.

Gilles Deleuze. Kritik und Klinik. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. Suhrkamp. Frankfurt/M. 2000, 205 S., DM 19,90