»Die USA sind eine seltsame Bestie«

Der Soziologe Marco D'Eramo über die mediale Inszenierung und italienische Verhältnisse im US-Wahlkampf

In Europa wird der US-Wahlkampf häufig als reines Medienspektakel kritisiert - und gleichzeitig imitiert. Der rechte italienische Oppositionsführer Silvio Berlusconi etwa beherrscht diese Inszenierung mittlerweile perfekt.

Die Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern sind wahrscheinlich größer als die zwischen CDU und SPD in Deutschland oder zwischen der italienischen Mitte-Links-Koalition und Berlusconi. Das Medienspektakel ist nur die äußere Form. Und nebenbei auch ganz normal: Denn wie würde eine Direktwahl für das europäische Parlament aussehen? Ich glaube, sie würde dem US-amerikanischen Wahlkampf entsprechen. Die Kandidaten würden eine Form wählen, in der sie in allen europäischen Ländern die gleiche Botschaft vermitteln könnten. So wie in den Vereinigten Staaten die Wähler von Minnesota, dem US-Pendant zum sozialdemokratischen Skandinavien, bis Alabama überzeugt werden müssen. Minneapolis ist eine hauptsächlich schwedische Stadt, also sozialdemokratisch. Saint Paul, die andere der Twin-Cities, ist nur zehn Kilometer entfernt: deutsch und konservativ. Das Ausmaß des Kontinents und die großen Gegensätze machen in den USA diese Form des Wahlkampfes notwendig.

Richard Nixon hat angeblich 1960 den Wahlkampf gegen John F. Kennedy unter anderem deswegen verloren, weil er schlecht rasiert im Fernsehen auftrat. In den aktuellen Wahlkampf-Debatten liegt Bush jr. vorn, weil Al Gore zu emotionslos wirkt. Bedeutet das: Die Inszenierung ist alles, der Inhalt nichts?

Die USA sind eine seltsame Bestie. Das Problem ist, dass wir Europäer glauben, die USA bereits aus dem Kino zu kennen. Aber wir interpretieren die Zeichen auf eine völlig andere Weise als eine Hollywood-Inszenierung, ohne deren realen Hintergrund zu erkennen. Ein Beispiel: In dem Carpenter-Film »Die Klapperschlange« wird Manhattan als eine Art großes Gefängnis voller Mutanten dargestellt. Das ist natürlich Science Fiction. Zugleich zeigt der Film, wie die Amerikaner die inner cities sehen. Downtown Los Angeles ist ein Hügel voller Wolkenkratzer, in denen große Firmen und Banken ihre Büros haben, prunkvolle Hochhäuser mit reflektierenden Fensterscheiben. Zugleich ist der Broadway voller Hispano-Amerikanern und Obdachloser.

Nur ein keines Stück weiter steht das Hochhaus der Los Angeles Times, wahrhaftig eine befestigte Burg. Denn der Gründer der Zeitung, General Otis, sah seine Redaktion als einen outpost. Tatsächlich gab es Zeiten, in denen Flammenwerfer, Bazookas und Gewehre in der Redaktion gelagert waren, um sich gegen die proletarische Revolution zu verteidigen. Die US-amerikanischen Filme sind also in gewisser Hinsicht gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Wir betrachten die Filme und das Spektakel in den Medien als einen Mythos, als eine perfekte Illusion. Doch dieser Mythos liegt näher an der Realität, als wir glauben.

Von außen betrachtet, erscheint es sehr schwierig, deutliche Unterschiede zwischen den Kandidaten zu erkennen. Beide sind eng mit dem Establishment verbunden und versuchen, die weiße Mittelschicht für sich zu gewinnen.

Es geht beim Wahlkampf durchaus um Inhalte: Die chemische Industrie unterstützt die Republikaner. Und auch die Waffenindustrie steht hinter Bush. Dafür kann Gore mit der Unterstützung der Gewerkschaften und der Afro-Amerikaner rechnen. Die Wahlen sind also im Wesentlichen eine Frage der Klasse.

Natürlich ist diese Front zwischen den Parteien auch übergreifend: Ein Teil des Bürgertums ist bereit zum Kompromiss. So wählt die Wall Street hauptsächlich demokratisch. Der Kapitalismus der Republikaner entspricht eher dem Kapitalismus von Los Angeles und der Südstaaten. Ob Wall Street Journal, Economist oder Financial Times - die angelsächsische Finanzwelt ist keineswegs auf Seiten der Republikaner. Und auch Alan Greenspan, der Chef der Federal Reserve, der US-Notenbank, favorisiert Al Gore. Bush steht hingegen für einen blutigen, sagen wir primitiven Kapitalismus.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Situation Anfang 1992. Der Golf-Krieg war gerade vorbei, und Georg Bush, der Vater des jetzigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten, führte in allen Umfragen. Doch die US-Notenbank hielt die Zinsen hoch und löste damit eine Rezession aus. Erst im September 1992 senkte Greenspan die Zinsen - zu diesem Zeitpunkt hatte Bush die Wahlen bereits verloren. Greenspan arbeitete schon damals gegen Bush. Und das macht er auch heute: Er lässt die US-Wirtschaft ruhig voranschreiten. Wenn er Gore stoppen wollte, würde er die Zinsen anziehen und damit die US-amerikanische Wirtschaft bremsen. Die Wähler würden ihre Meinung über die Demokraten sofort ändern.

In Italien haben sich die Christdemokraten nach zahlreichen Korruptionsaffären aufgelöst, in Deutschland sind die Konservativen deswegen schwer in Bedrängnis geraten. Sind in den USA ähnliche Skandale vorstellbar?

Tatsächlich sind die USA weniger der Schlüssel, mit dem sich Europa erklären lässt, sondern umgekehrt. Vieles in den USA versteht man erst, wenn man es aus einem italienischen Blickwinkel erklärt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verteilten die Christdemokraten bei Wahlen in Neapel ein Kilo Pasta für jede Stimme, die an sie ging. Oder auch ein Paar Schuhe. Zur Kontrolle wurde dabei der zweite Schuh erst nach der Wahl ausgehändigt. Vielleicht ist der Vergleich etwas weit hergeholt. Doch ich habe dieses Jahr auf dem Parteitag der Republikaner Stände gesehen, an denen Brot ausgeteilt wurde. Das habe ich in Europa noch nie beobachtet. Die CDU, die auf einem Parteitag Brot verteilt - das wäre unvorstellbar.

Aber es gibt auch bestimmte Mechanismen, die wir für alt und sizilianisch halten, und die aber sehr modern und amerikanisch sind. Den Klientelismus haben zum Beispiel die Nordamerikaner Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Welche Möglichkeit hatten die US-Politiker, um die Stimmen der Immigranten aus Europa zu gewinnen? Sie entschieden sich, diese Stimmen zu kaufen. Was wir für eine sizilianische Praxis der Mafia halten, wurde tatsächlich zuerst in den Vereinigten Staaten praktiziert. Und auch die politische Korruption hat ihren Ursprung in den USA. Dafür gibt es auch einen wichtigen Grund: Politische Korruption kann es nur geben, wo sich Stimmen kaufen lassen. Im Grunde sind daher alle Anti-Korruptions-Kampagnen auch Anti-Demokratie-Kampagnen. Denn in dem Moment, in dem es Demokratie gibt, gibt es auch die Möglichkeit, Stimmen zu kaufen: Wenn ihr für mich stimmt, wird die Fabrik in eurer Stadt gebaut, statt in einer anderen. Der Klientelismus ist also ein US-amerikanisches und ein italienisches Phänomen.

Welche Funktion übernimmt dieser Klientelismus im politischen System der USA?

In Chicago beispielsweise wird die Demokratische Partei »die Maschine« genannt. Eine Maschine, die Arbeit verteilt und dafür Stimmen einnimmt. Genauso wie in Süditalien. Nur dass in Chicago die Arbeitsplätze nicht nach Religion oder Parteizugehörigkeit verteilt wurden wie in Italien, sondern nach der Ethnie. Der Bürgermeister muss um die Stimmen aller Immigrantengruppen, also der Deutschen, der Italiener, der Juden, der Iren und der Polen zugleich werben. Das Ergebnis: Schon immer war der Vize-Direktor der Polizei in Chicago ein Deutscher. Der oberste Richter ist immer ein Italiener. Der Gewerkschaftsführer ist immer ein Ire und der Kommunalsekretär ein Pole. Der Direktor der öffentlichen Bibliotheken ist stets ein Afro-Amerikaner. Alle öffentlichen Institutionen müssen eine ganz bestimmte Anzahl an Vertretern der einzelnen Ethnien einstellen. Und im Gegenzug entsprechen die Wahlkreise in der Stadt genau den Vierteln, in denen sich die einzelnen Ethnien konzentrieren. So gibt es also einen polnischen Wahlkreis, ebenso wie einen deutschen oder italienischen. Gemischte Wahlkreise werden vermieden. Das ist Klientelismus.

Wie ist diese Verbindung zwischen amerikanischer Politik und italienischen Verhältnissen entstanden?

Die Zusammenarbeit von Politik und Kriminalität wurde in den USA erfunden. Die italienische Mafia hatte in den dreißiger Jahren noch keine Verbindung mit der Politik. Diese hat sich erst entwickelt, als die Mafia aus Amerika wieder nach Italien zurückgekehrt ist. Die sizilianischen Mafiosi sind nach Amerika gegangen, und erst dort ist die moderne Form des Syndikalismus entstanden. Das Syndikat ist eine Art Lobby. Das ist eine kapitalistische Struktur der amerikanischen Kriminalität, die eng mit der Politik verbunden ist. Die kriminellen Organisationen sind daher ebenso in der Politik repräsentiert wie etwa General Motors.

Marco d'Eramo, geboren 1947, studierte Physik in Rom und Soziologie bei Pierre Bourdieu in Paris.

Er arbeitet als Journalist und Buchautor. Als Korrespondent der italienische Tageszeitung il manifesto berichtete er über den US-Wahlkampf. Auf Deutsch liegt von ihm der Band »Das Schwein und der Wolkenkratzer« vor (Kunstmann, München 1996).