Telekolleg Mathematik

Die Pfeifen des Potenzbegriffs

Das Telekolleg Mathematik beweist, dass die Informationsgesellschaft längst hinter uns liegt.

So ändern sich die Zeiten: Während die Sozialdemokraten heute eher gemütlich vor sich hinregieren, hatte man in den siebziger Jahren noch ein paar Ziele, und eins lautete ganz entschieden, das Volk nicht in Ruhe zu lassen. Nach einem anstrengenden Arbeitstag zu Hause zu chillen, war in dieser Zeit verboten, unermüdlich hatte man sich weiterzubilden, lehrreiche Sendungen im Fernsehen anzuschauen und gesellschaftlich wichtige Themen zu diskutieren.

Zu den schlimmsten Einrichtungen gehörte damals das Telekolleg. Medial gestützte Belehrungen waren sehr modern, Radiosendungen wie der Schulfunk schienen jedoch den ehrgeizigen Ansprüchen nicht zu genügen. Dabei waren die sehr erfolgreich gewesen, ganze Generationen von Lehrern machten sich den Erziehungsauftrag einfach, indem sie schlicht zu Stundenbeginn das Radio anschalteten und ihre Schüler Sendungen wie »Du bist mitverantwortlich« oder »English for Beginners« anhören ließen. Für diejenigen, die geschwatzt hatten und deswegen später aus ihren spärlichen Notizen beim besten Willen den geforderten Aufsatz nicht zusammenbekamen, wurden die Sendungen nachmittags wiederholt, und so hätte es immer weiter gehen können.

Dieses Medienangebot reichte den Verantwortlichen jedoch nicht. Zunächst wurden daher in den westdeutschen Gymnasien Sprachlabors eingerichtet, meistens in irgendwelchen leerstehenden Kellerräumen. Das Lehrpersonal musste dann nur noch Kassetten einlegen und per Einzelschaltung überwachen, dass die Schüler auch tatsächlich Worte nachsprachen oder Sätze wiederholten. Das war auf die Dauer ziemlich öde, die Kopfhörer gingen ständig kaputt, die Laufwerke leierten aus, und gelernt wurde nichts, sodass die Sprachlabors schließlich abgebaut und in Aufenthaltsräume für die höheren Jahrgangsstufen oder in Fahrradkeller umgewandelt wurden.

Dieses Fiasko hätte eigentlich ausreichen müssen, aber unverdrossen arbeitete man weiter an der Volksbildung. Telekollegs waren der neue Hit, der es Arbeitnehmern ermöglichen sollte, fehlende Abschlüsse bequem nachzuholen. Schülern sollte so kostenlos Nachhilfe per Bildschirm erteilt werden. Ob damals tatsächlich irgendjemand wertvolle Freizeit geopfert hat, um sich die Grundzüge von Chemie, Wirtschaft, Mathematik und Sozialkunde erklären zu lassen, ist nicht bekannt, Einschaltquoten wurden in diesen Jahren nicht öffentlich zugänglich gemacht. Ebenfalls unklar ist, ob sich tatsächlich Menschen durch die umfangreichen Folgen von »Algebra I-III« gequält haben, nur, um am Ende das Abitur machen zu können.

Tatsache ist dagegen, dass man wohl auch heute noch an das Telekolleg glaubt, denn auf verschiedenen Dritten Programmen wird den Zuschauern ganz früh am Morgen immer noch etwas beigebracht. Äußerst kostengünstig, denn es sind selbstverständlich noch die alten Folgen, die gezeigt werden.

Zu den langweiligsten gehört definitiv das Telekolleg Mathematik. Das liegt nicht nur am Stoff - Unterhaltung hatte damals offensichtlich nichts in der Bildung zu suchen, deswegen hat man sehr viel Mühe darauf verwandt, in der ödestmöglichen Kulisse den drögsten Mathematiker, der sich finden ließ, auftreten zu lassen, und streng darauf geachtet, dass der Zuschauer auf keinen Fall durch Kamerabewegungen abgelenkt wird. Für die Folgen zur »Exponentialfunktionen« hat man mit Ludwig Graf jemanden gefunden, der vor lauter Begeisterung, dass »wir uns jetzt überlegen wollen, wie wir Wurzeln als Exponenten schreiben können«, schier aus dem Häuschen gerät. Das merkt man daran, dass er etwas lauter spricht. »Wir werden uns überlegen, wie wir das verstehen sollen«, kündigt er an, und schon geht's los. Natürlich mit Überlegungen, denn die gehören zur Mathematik unabdingbar dazu. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum ein Flügel oder ein Cembalo so eine geschwungene Form haben? Oder die Orgel?« Nicht wirklich, aber um das zu ändern, ist Graf schließlich auf der Welt. Zur Großaufnahme von Orgelpfeifen befiehlt er, dass man sich nun eine sie verbindende Linie denken solle. »Sehen Sie, sie hat Ähnlichkeit mit ...« Einer Sprungschanze? Nein, »mit den Graphen einer Exponentialfunktion«.

Das ist eine sehr weit hergeholte Interpretation einer Zeichnung, die eindeutig aussieht wie die des norwegischen Holmenkollens, aber das kümmert den Mathematiker nicht. Sehr beglückt darüber, dass er so eine leicht verständliche Einführung ins Thema gefunden hat, beginnt er nun damit, Orgelpfeifen zu vermessen. Dabei harmonieren sein grau-blondes halblanges Haar, das locker über die Ohren fällt, sein grauer Schnurrbart, der graue Anzug und das grauweiße Hemd sehr schön mit dem Hintergrund, der eher ins Graue spielt.

Plötzlich wird Graf wieder enthusiastisch, denn nun hat er herausgefunden, dass jede Orgelpfeife nur halb so groß zu sein scheint wie die vorherige. Das zu wissen könnte reichen, aber nun muss das Ganze auch wieder ausgerechnet werden. F(x) = l null mal zwei hoch x, erklärt er eine Gleichung, die umgehend wieder neue Fragen aufwirft. Wenn »l null« tatsächlich die erste Pfeife bezeichnet, kann es sich dabei nur um einen Fehler handeln. Viel logischer wäre es doch wohl, sie »l eins« zu nennen?

Das interessiert beim Telekolleg Mathematik jedoch niemanden, im Gegenteil, eine sachliche Frauenstimme stellt einfach immer weiter Behauptungen auf. Garniert mit vielen Zahlen, Klammern und x-en, während Graf den Standort gewechselt hat. Er steht mittlerweile an einer blauen Tafel und beschäftigt sich immer noch mit dem Pfeifenausrechnen. Mit einem Taschenrechner. Warum kann er, wenn Hilfsmittel doch erlaubt zu sein scheinen, nicht einfach ein Lineal nehmen, um in aller Ruhe die Dinger zu vermessen? Nein, die Antwort auf die wichtige Frage »wie lang ist die Pfeife mit der Nummer fünf?« muss mit Hilfe komplizierter Formeln ermittelt werden. Dazu müssen »die Exponenten in Produkte zerlegt werden«, für aufmerksame Telekollegfans kein wirkliches Problem. »Denn da erinnern wir uns an das fünfte Potenzgesetz«, und schwupps, »haben wir die Lösung«. Nicht ganz, denn »a hoch m mal x ist gleich a hoch m in Klammern hoch n« muss nicht unbedingt auch die tatsächliche Formel sein, man ahnt nur, dass sie so lauten könnte. Denn Graf verdeckt den letzten Teil des mathematischen Konstrukts und macht keine Anstalten, sich wegzubewegen - selber schuld, wenn man letztes Mal nicht aufgepasst oder das Gesetz nicht auswendig gelernt hat, auf solche Idioten kann man jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.

Nach einiger Rechnerei, die, große Überraschung, zum Ergebnis hat, dass jede Pfeife immer doppelt so groß ist wie die vorherige, ist für Graf wieder Zeit, sich sehr zu freuen: »Wir haben jetzt unseren Potenzbegriff erweitert!« frohlockt er, aber sich nun auf den Lorbeeren auszuruhen ist seine Sache nicht. Schließlich gibt es noch weitere dringende Fragen, die auf der Stelle geklärt werden müssen. Wann es endlich klingelt, gehört nicht dazu. »Kann ein Exponent auch eine negative Zahl sein?« möchte Graf jetzt wissen. Tendenziell ja, wahrscheinlich, aber natürlich muss dazu jetzt wieder eine Gleichung gefunden werden. Ein ungeheuer spannendes Experiment soll den Zuschauer anregen. Dabei geht es um Hefepilze, deren Wachstum mit ungeheuer modernen Methoden beobachtet wurde, was nun im Zeitraffer dargestellt wird. Nach drei Stunden sind schon acht Quadratzentimeter mit Pilzen besiedelt, »in jeder Stunde verdoppelt sich die Fläche«. Hä?

»Aber wie lässt sich nun zwei hoch minus n sinnvoll definieren?« fährt Graf fort, und immer weiter geht die Reise in die Wunderwelt der Mathematik, die vom Telekolleg kongenial umgesetzt wird. Aber wahrscheinlich guckt auch diesmal wieder keiner zu.