The System Works

Die politischen Unterschiede zwische Gore und Bush sind zweitrangig. Die US-Wählerschaft will vor allem den Erhalt des Status quo.

Ein denkbar knappes Gesamtergebnis, und dazu noch der Auszählungskrimi in Florida. Ihre Nation sei »tief gespalten«, sorgen sich US-Kommentatoren, manche Zeitungen fürchten sogar eine »Verfassungskrise«.

Auch wenn wahrscheinlich nie mehr herauszufinden ist, wer nun »wirklich« die Wahlen gewonnen hat, und auch wenn das Auszählungs-Chaos samt Rechtsstreit für die Beteiligten überaus lästig sein mag, am Ende wird doch einer der beiden Kandidaten seine Niederlage eingestehen und dem anderen eine geordnete Amtsübernahme im Januar ermöglichen - im »Interesse der Nation«. Damit wird der Beweis erbracht sein: »The system works«. Außerdem habe sich endlich einmal gezeigt, wie US-Präsident William Clinton schon kurz nach der Wahl zufrieden feststellte: »Every vote counts.«

Nur wofür? Die politischen Unterschiede zwischen Gore und Bush - zumindest darin hat der grüne Kandidat Ralph Nader Recht - sind in den meisten Punkten zu vernachlässigen. Diese Einsicht war noch während des langweiligen Wahlkampfs weit verbreitet, wird aber jetzt durch das Florida-Spektakel wieder verschüttet. In Wahrheit ist die US-Wählerschaft nicht »gespalten«, sondern hat zu 96 Prozent für den Status quo gestimmt.

Allenfalls an zwei wichtigen Punkten sind wesentliche Differenzen zwischen den beiden aussichtsreichen Kandidaten zu erkennen: bei der Verwendung der Steuerüberschüsse und beim Recht auf Abtreibung. Bush will mit dem erwarteten Haushaltsplus vor allem die Spitzensteuern senken, Gore will lieber einen Teil der früher angehäuften Staatsschulden abzahlen. Doch diese Frage wird spätestens dann hinfällig, wenn die unvermeidliche Rezession einsetzt und sich die geplanten Mehreinnahmen in Luft auflösen. Und das Recht auf Abtreibung ist für die meisten Frauen, vor allem in ländlichen Regionen und unteren Einkommensgruppen, längst ausgehebelt - durch den »Lebensschützer«-Terror gegen Frauenärzte und durch restriktive Vorschriften, die auch von demokratischen Politikern erlassen worden sind.

An allen anderen Punkten - von der Außenpolitik über die Parteienfinanzierung bis zur Todesstrafe - sind die Programme von Bush und Gore einander zum Verwechseln ähnlich. Deswegen konzentrierte sich der Wahlkampf vor allem auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten: der sympathische, aber manchmal etwas tölpelhafte Bush gegen den hölzernen, aber erfahrenen Gore.

Dabei hätte Gore die Wahl haushoch für sich entscheiden müssen. Rekordverdächtiges Wirtschaftswachstum, Sanierung der Staatsfinanzen, sinkende Kriminalitätszahlen, relativer Frieden - die Dauerbombardements gegen Irak und die eskalierende Intervention in Kolumbien spielen in der US-Öffentlichkeit bisher keine Rolle - diese Erfolgsbilanz der vergangenen acht Jahre hätte für die Beförderung des derzeitigen Vizepräsidenten eigentlich ebenso locker reichen müssen wie für klare Mehrheiten seiner Partei im US-Kongress.

Doch es kam anders. Unter Präsident Clinton haben sich die Demokraten zu Tode gesiegt. Seine Wahl 1992 hatte Clinton noch mit einem sozialdemokratischen Programm gegen Bush senior gewonnen: »Putting people first«, hatten die Demokraten versprochen. Sie wollten sogar eine allgemeine öffentliche Krankenversicherung einführen - die erste echte Sozialreform seit den sechziger Jahren.

Davon war jedoch bald nach der Amtsübernahme keine Rede mehr. Clinton erklärte, die Ära von »Big Government«, gemeint war der Sozialstaat, sei »over«. Seine wichtigsten Projekte - Freihandel, »Wohlfahrtsreform«, Kriminalitätsbekämpfung - brachte der neue Präsident mit republikanischer Unterstützung durch den Kongress, manchmal sogar gegen die Mehrheit seiner eigenen Partei. 1994 gewannen die Republikaner erstmals die Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Sie hatten ihre rechte Basis erfolgreich mobilisiert, während viele demokratische StammwählerInnen zu Hause blieben. Auch in den Bundesstaaten und Kommunen dominierten nun die Republikaner.

Dieses Muster gilt weiterhin. Im Kampf um die vermeintliche »Mitte« übernahm Clinton die Inhalte der Republikaner - und trieb diese damit fast zur Verweiflung. Der linke Flügel der Demokraten wurde hingegen kaltgestellt, die traditionelle Wählerbasis demoralisiert. Allenfalls bei »kulturellen« Themen behielt Clinton noch ein gewisses links-aufgeklärtes Profil und wurde dafür von den rechten Kulturkämpfern gehasst. Aber auch darauf wollte sein Möchtegern-Nachfolger verzichten: Die Wahlkampf-Predigten von Gore und seinem Vize-Kandidat Joseph Lieberman klangen oft so, als seien sie bei der »Moral Majority« der rechten Fundamentalisten abgeschrieben.

Gleichzeitig war Bush der moderateste republikanische Präsidentschaftskandidat seit mehr als 20 Jahren. Die Kreuzzugsparolen der christlichen Rechten verschwanden aus dem Wahlprogramm. Bush rühmte sich, wie gut er in Texas mit den Demokraten zusammenarbeite. Das Resultat dieser Kooperation: Texas liegt bei den Hinrichtungen ganz vorn - eine Tatsache, die Gore nicht kritisieren mochte - und beim Umweltschutz ganz hinten.

»Gespalten« sind die USA also kaum zwischen Republikanern und Demokraten, sondern allenfalls zwischen Wählern und Nichtwählern. Nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligte sich an der Abstimmung. Je geringer das Einkommen, desto geringer auch die Wahlbeteiligung: Leute mit einem Jahreseinkommen von mehr als 50 000 Dollar gehen zu etwa zwei Dritteln zur Wahl - und stimmen dann überwiegend republikanisch -, bei Leuten, die weniger als 15 000 Dollar im Jahr haben, sind es weniger als ein Drittel.

Das ist auch kein Wunder, denn Gore hat dieser Klientel - unter den Geringverdienern sind viele Afroamerikaner und Latinos - wenig anzubieten. Dass hier ein politisches Potenzial steckt, bewies eine der wenigen fortschrittlichen Gesetzesinitiativen der vergangenen Jahre: Eine außerparlamentarische Mobilisierung von Gewerkschaften und Bürgerinitiativen erzwang 1996 eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf derzeit 5,15 Dollar pro Stunde - selbst der republikanisch dominierte US-Kongress musste sich geschlagen geben.

Auf eine solche sozialreformerische Massenbasis setzte auch die Wahlkampagne des Verbraucheranwalts Ralph Nader. Weitgehend erfolglos, wie sich nun gezeigt hat. Offensichtlich gibt es auch in den USA keinen schlafenden Riesen, der nur von einem bekannten und charismatischen Kandidaten wachgeküsst zu werden braucht. Um eine linke Alternative aufzubauen, sind Präsidentschafts-Wahlkämpfe nicht das richtige Terrain.