Wahlen nach Zahlen

Der knappe Ausgang der US-Wahlen hat einige systematische Unzulänglichkeiten des politischen Systems offenkundig gemacht.

Von Heinz Erhard oder Harald Schmidt wurde einmal der folgende Witz kolportiert: Im Rat einer namenlosen Kleinstadt war lange Zeit die DKP stark vertreten, sehr zum Verdruss der konservativ-katholischen Bevölkerungsmehrheit. Als sich an einem Wahlsonntag der katholische Pastor und eine alte Bäuerin begegnen, will der Kleriker wissen: »Frau Schlüter, haben Sie denn auch die richtige Partei gewählt?« - »Jaja, Herr Pastor, ich hab' mein Kreuzchen da gemacht, wo ðKommunionÐ stand.«

Ähnlich erging es am 7. November anscheinend vielen, vor allem älteren EinwohnerInnen von Palm Beach, Florida. Vermutlich wegen des Layouts der maschinenlesbaren Wahlkarten gaben viele WählerInnen versehentlich ihre Stimme dem Rechtsaußen von der Reformpatei, Pat Buchanan, obwohl sie eigentlich den Kandidaten der Demokratischen Partei, Albert Gore, meinten. Viele von denen, die den Fehler rechtzeitig bemerkten, stanzten dann noch ein zweites Loch in ihre Wahlkarte, diesmal an der richtigen Stelle, und machten so ihre Wahlkarte ungültig.

Solche und ähnliche Unregelmäßigkeiten sind eigentlich nichts Ungewöhnliches in einem US-Wahlkampf. Glaubt man einer Kolumnistin der New York Times, ist es in New York schon vorgekommen, dass ein Wahllokal geschlossen blieb, weil der Lieferwagen mit der Zählmaschine verloren ging oder die Schlüssel unauffindbar waren. In St. Paul, Missouri, entschied bei dieser Wahl ein Bezirksrichter im Schnellverfahren, die Wahllokale länger geöffnet zu halten, weil die Warteschlangen vor den Lokalen nicht kürzer wurden. Ein übergeordnetes Gericht kassierte die Entscheidung zwei Stunden später. Was mit den inzwischen abgegebenen Stimmen passiert, weiß niemand. Über solche Dinge regt sich für gewöhnlich niemand auf. Dass jetzt die öffentliche Aufmerksamkeit erregt ist, liegt nur daran, dass der Wahlausgang so knapp war wie noch nie in der Geschichte der USA.

Die Entscheidung, wer der nächste US-Präsident wird, hängt im Moment davon ab, welcher der beiden Kandidaten in Florida gewinnt. Am Tag nach der Wahl sah es zunächst so aus, als hätte George W. Bush mit 1 700 Stimmen Abstand gesiegt. Florida hat allerdings ein Gesetz, das eine Neuzählung der Stimmen vorschreibt, wenn der Abstand zwischen den beiden führenden Kandidaten weniger als ein halbes Prozent der abgegebenen Stimmen beträgt. Der unterlegene Kandidat hat die Möglichkeit, auf eine zweite Zählung zu verzichten und seine Niederlage einzugestehen.

Sprecher Bushs werfen Gore nun vor, dass er wider bessere Einsicht auf einer Wiederholung der Stimmenauszählung instistiere. Nach den ersten Neuzählungen war Bushs Vorsprung in Florida auf 327 Stimmen geschrumpft. Aus ungeklärten Gründen fehlen jedoch noch über 7 600 Wahlzettel, und das Ergebnis der Briefwahl ist auch noch nicht bekannt. Acht Einwohner von Palm Beach haben gegen das vorläufige amtliche Wahlergebnis Klage eingereicht; ein Gericht entschied Ende letzter Woche, dass die Ergebnisse der Neuzählung erst bekannt gegeben werden dürfen, wenn mindestens zwei der Kläger vor Gericht angehört worden sind.

Interessant sind jetzt die Reaktionen auf den Wahlausgang. Keines der Wahlkampfteams war darauf eingestellt, den Wahlkampf fortzuführen. Doch genau das müssen sie nun. Weder Albert Gore noch der republikanische Kandidat George Bush möchte als einziger Präsident in die Geschichte eingehen, der sich in das Amt eingeklagt hat. Beide Kandidaten sind aus Imagegründen sichtlich bemüht, nicht persönlich in das administrative und juristische Handgemenge verwickelt zu werden. Ein schwieriges Unterfangen, da das Vorgehen bei der Nachzählung in Florida zum Politikum geworden ist. Werden die maschinenlesbaren Stanzkarten von Menschen oder Maschinen nachgezählt? Gores Wahlkampfteam setzt auf eine Zählung von Hand, um auch die wegen überstehender Pappreste in den Stanzlöchern von den Maschinen zurückgewiesenen Karten zu erfassen. Bush ließ gegen dieses Verfahren Klage einreichen, mit der Begründung, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Kriterien für die Eindeutigkeit der Stimmabgabe anlegten; Zählmaschinen seien objektiver.

Ein kleiner Sieg für Gore. Denn nach der Wahl konnte Bush Gores Ankündigung, die Wahl vor Gericht anzufechten, als Geste eines schlechten Verlierers abtun und darauf bestehen, dass eine Wahl nicht von Richtern, sondern von der Bevölkerung entschieden werden sollte. Dieses Argument ist zwar platt und populistisch und ignoriert die Tatsache, dass die Wählerschaft ihre Entscheidung zwischen den zwei Übeln nicht gerade eindeutig formuliert hat, aber es funktionierte. Bush stand direkt nach der Wahl als Sieger da; Gores Anfechtung des Wahlergebnisses schadete seinem Image. Nun aber sind es die Republikaner, die als erste vor Gericht ziehen.

Die bürgerlichen Medien ergehen sich in Krisendiagnostik und Schuldzuweisungen. Thomas L. Friedman fordert in der New York Times eine Regierung der nationalen Einheit. Wer auch immer Präsident wird, sollte »von der Mitte aus regieren« und die Regierungsämter teilweise mit Mitgliedern der jeweils anderen Partei besetzen, um »ein Kabinett zu bekommen, dass wie die Wählerschaft aussieht«. Die Nation sei schließlich gespalten.

Schuld an der Misere ist für den Gore-Anhänger Friedman nur einer: Ralph Nader. Hätte Nader nicht in Florida 97 000 der 5,8 Millionen abgegebenen Stimmen gewonnen, wäre der Wahlausgang völlig eindeutig. In einem gehässigen Absatz wünscht sich Friedman, dass, wer auch immer Präsident wird, Nader als ersten US-Botschafter nach Nordkorea schickt. Nader könne dann »seine Zeit mit einem weiteren egomanischen Narziss, dem geliebten Führer Kim Jong Il, verbringen und so aus erster Hand erfahren, wie ein Land aussieht, das seine wahnwitzige Wirtschaftsphilosophie verfolgt«. Aber wer in einem siamesischen Bush/Gore-Zwilling den »volksnahen« Präsidenten erblickt, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.

Linke Medien beurteilen die Lage ein wenig anders. Das linksradikale Blatt CounterPunch titelte vergangene Woche: »Nader und die Vorzüge des Patts. Wahl 2000: Die beste aller möglichen Welten«. Da emanzipatorische Politik mit keinem der möglichen Präsidenten zu machen sei, sei eine schwache, beinahe handlungsunfähige Regierung das Beste, was aus linker Sicht passieren konnte. Michael Albert, Leitartikler des ZNet, ist etwas weniger optimistisch und fragt sich, woran es lag, dass Ralph Nader seine angepeilten fünf Prozent doch sehr deutlich verfehlte.

Albert sieht einen Grund in Gores wahlkämpferischer Inkompetenz. Hätte Gore einen guten Wahlkampf geführt, hätte er glatt gewonnen und die Angstkampagne »Jede Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush« wäre unnötig gewesen. Anders sei nicht zu erklären, warum Nader nur gut die Hälfte des Stimmenanteils erreicht habe, den ihm die Meinungsumfragen prognostiziert hatten. Doch nicht allein Gore könne für Naders schlechtes Abschneiden verantwortlich gemacht werden. Naders Hoffnung seien die Leute gewesen, die für gewöhnlich nicht zur Wahl gehen, sie aber habe er nicht hinreichend mobilisieren können. Die Tatsache, dass er in Kalifornien bei den Weißen doppelt so gut abgeschnitten hat wie bei den Schwarzen, gibt zu denken.

Was also kann man aus diesen Wahlen über die politische Stimmung in der US-Bevölkerung lernen? Sehr wenig. Es war vor der Wahl bereits klar, dass das Rennen knapp werden würde. Es war bekannt, dass der neue Präsident mit den Stimmen von etwa einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt werden würde, während fast die Hälfte überhaupt nicht zur Wahl gehen würde. Es war bekannt, dass Geld der wichtigste Faktor im Wahlkampf ist und dass sich ohne eine Reform des Kampagnenfinanzierungsgesetzes auf Dauer keine dritte Partei im politischen System wird etablieren können - vor allem dann nicht, wenn die Medienkonzerne mitspielen und zu den Fernsehdebatten nur die Kandidaten der beiden großen Parteien zulassen.

Wenn jetzt der eine oder andere Skandal aufgedeckt und die Legitimität von Clintons Nachfolger bezweifelt wird, liegt das nicht daran, dass das politische System in den vergangenen zwanzig Jahren an Legitimität eingebüßt hätte. Es liegt daran, dass der knappe Wahlausgang einige systematische Unzulänglichkeiten auch für Beobachter aus dem politischen Mainstream offenkundig macht.