Nizza und die Ost-Erweiterung

20 Millionen gegen die Bombe

Deutschland tritt unter der Regierung Schröder auf der europäischen Bühne viel selbstbewusster auf als etwa noch zu Zeiten Helmut Kohls. Schamlos besteht es gegenüber Frankreich auf seiner Macht. Nachdrücklich formulierte Schröder vorm Gipfel von Nizza immer wieder, Deutschland verdiene wegen seiner um 20 Millionen höheren Bevölkerungszahl mehr Stimmen im EU-Ministerrat als Frankreich.

Von der ökonomischen Potenz des Nachbarn in die Enge getrieben, besaß Frankreichs Präsident Jacques Chirac nur die Atombombe als Argument, um am Status Quo der Machtverteilung in Europa festzuhalten. Dem deutschen Außenminister Joseph Fischer und Bundeskanzler Schröder kann er damit aber nur noch ein Grinsen entlocken, denn in Europa werden die Schlachten derzeit mit dem Scheckbuch, mit flexiblen Eingreiftruppen und mit der Moral geschlagen - nicht mit der großen Bombe.

Fischer und Schröder symbolisieren den neureichen Emporkömmling Deutschland: arrogant, penetrant, eloquent. Die alte Großmacht Frankreich konnte Deutschland zunächst kaum Paroli bieten. Mit der Finanzaffäre seiner Partei unter innenpolitischen Druck gesetzt, wird Präsident Chirac verdächtigt, die nationalen Belange dem mächtigen Nachbarn preiszugeben.

Für Chirac galt es im Wesentlichen, das Gesicht zu wahren. Das ist ihm halbwegs gelungen - trotz des großen Drucks, den die deutschen Repräsentanten vor dem Gipfel ausgeübt haben. Weder werden bis 2004 wesentlich mehr Entscheidungen per Mehrheitsprinzip getroffen, noch bekommt Deutschland den geforderten Stimmenzuwachs im Ministerrat. Frankreich hat seine Abwehrschlacht gegen deutsche Begehrlichkeiten gut geschlagen.

Deutschland hingegen kann sich den Flop von Nizza erlauben, denn die Zeit arbeitet für Berlin. Das ökonomische Übergewicht wird sich früher oder später auch in den europäischen Institutionen auswirken. Ihren Machtzuwachs verdanken die Deutschen nicht nur ihrer wiedergewonnenen Souveränität, sondern auch ihrem neuen osteuropäischen Hinterhof. 1989 und die Folgen haben das Kräfteverhältnis zugunsten Deutschlands verschoben. Jetzt hat der Gewinner der Konkurrenz auch durchgesetzt, dass sein Machtzuwachs anerkannt und festgeschrieben wird. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Beitrittskandidaten ist auch eine politische: Polen wird seine Interessen nur dann erfolgreich vertreten, wenn sie von Deutschland gebilligt werden. In Nizza konnte sich Deutschland in wesentlichen Punkten deshalb der Zustimmung aus dem Osten sicher sein.

Mit den Entscheidungen von Nizza hat sich daher auch endgültig die Nachkriegsordnung aufgelöst. Wer nun die Maßstäbe setzt, demonstrierte Schröder kürzlich während seines Besuches in Polen: »Es gibt keinen besseren Ort als Warschau, um eine öffentliche Bitte loszuwerden an die Kollegen im Europäischen Rat: Wir müssen unseren Auftrag erfüllen, dass Polen und die anderen Staaten nach Europa zurückkehren können, zu dem sie immer gehört haben und von dem sie nur durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges getrennt wurden.«

Man werde, so Schröder weiter, dafür sogar die »nationalen Interessen zurücktreten« lassen, da sie in einem integrierten Europa besser zur Geltung kommen. Deutschland kann auf Europa setzen, weil es sein eigenes Projekt ist. Seine Position hat sich schon jetzt verstärkt und wird sich erst recht verstärken, wenn die osteuropäischen Staaten hinzukommen.

Die einstige »Freundschaft« mit Frankreich, der »europäische Motor« und ähnliche Metaphern entpuppen sich heute als das, was sie schon immer waren: Ausdruck eines strategischen Bündnisses, das nun auch seine ideologische Bedeutung verliert. Die 40jährige Sonderrolle, die die deutsch-französischen Beziehungen gespielt haben, hat sich in Nizza aufgelöst. Was Kohl in der alten Bonner Republik nur vorsichtig anzudeuten wagte, formulieren Fischer und Schröder heute ohne Umschweife: Deutschlands hegemonialen Anspruch auf Europa. In Nizza ist er offenbar geworden - auch wenn sich Deutschland nicht so durchsetzen konnte, wie es zu befürchten war.