Werkausgabe von Johnny Cash

Der weiße Seelenmann

Von den Entrechteten über Richard Nixon bis zu Grunge-Rockern: Johnny Cash ist der Man in Black. Eine Werkausgabe zieht Bilanz.

Nach fast fünf Dekaden Johnny Cash könnte man meinen, Johnny Cashs größte Leistung sei es, immer noch da zu sein. Wenn ihn schon sein jahrzehntelanger Drogen- und Medikamentenkonsum nicht dahingerafft hat, hätte er eigentlich bei mindestens drei Dutzend anderen Gelegenheiten von einem Integritäts-Loyalitäts-Paradox zerrissen werden müssen. Der Mann ist ein wandelnder Widerspruch. Ein Country-Star mit sozialkritischem Anliegen, der seit Richard Nixon für alle amerikanischen Präsidenten ein Konzert im Weißen Haus gegeben und Nixon als netten integeren Mann beschrieben hat. Ein Prediger der Bescheidenheit und Gottesfurcht, der in der Country Hall of Fame neben all den selbstgefälligen Arschlöchern steht, die das Genre über die Jahre hervorgebracht hat.

Aber es sind die Kontinuitäten im Cash-Kosmos, die ihn zu einem amerikanischen Volksmythos gemacht haben. Amerikanischer als Elvis. Und immer noch am Leben. »Love, God, Murder« ist der Titel einer kürzlich erschienenen CD-Box, die Johnny Cashs Werk erstmals säuberlich getrennt auf diese drei Leitthemen zurückführt. In den Linernotes beißen sich Zeitgenossen wie Bono Vox von U 2 und Quentin Tarantino die Zähne bei dem Versuch aus, die Faszination, die Cash bis heute hat, zu erklären. Denn seine Popularität ist ungebrochen - erst recht seit ihn 1993 Altrocker Rick Rubin (der Produzent von Slayer, LL Cool J, Public Enemy und den Beastie Boys) zu einem Comeback überreden konnte. Ein Comeback, gegen das sich Cash zunächst wehrte, wollte er sich doch nicht aus Hipness-Gründen von irgendwelchen Rotzlöffeln ins Handwerk pfuschen lassen.

Doch die erzchristliche Semantik Cashs war sogar mit dem Wertesystem der Grunge-Generation vereinbar. Was macht Cash zu dieser generationsübergreifenden Identifikationsfigur? Ist es, wie Quentin Tarantino in seinem Text zur »Murder«-CD behauptet, Cashs Verbindung zum Gangsta-Rap? Wohl kaum, hat doch die soziale Realität der afroamerikanischen und hispanischen Unterschicht nur wenig mit dem Leben Johnny Cashs zu tun. Eher ist es seine kompromisslose Haltung, mit der er sein musikalisches Erbe gegen alle kommerziellen Interessen zu verteidigen sucht. Johnny Cash ist ein lebendes Fossil, dessen Unzerstörbarkeit ein Element von Selbstversicherung und Unvergänglichkeit enthält. Niemand kann glaubwürdiger von Leiden, Tod und Wiedergeburt erzählen als jemand, der sich von ganz unten hochgearbeitet und der den Styx so oft überquert hat, dass das Kilometergeld die Tantiemen seines Gesamtwerks übertreffen würde.

Cashs Biografie stellt eine Authentizität und Unmittelbarkeit in Aussicht, an der jeder Twenty-Something sein eigenes Lebenskonzept wieder aufpäppeln kann. Cashs verzehrter Körper scheint als Ikone von Lebenserfahrung zu taugen und scheint so das letzte Versprechen von echtem, leibhaftigem Rock'n'Roll einlösen zu können. 1932 wurde John R. Cash als eins von sieben Kindern in einem Kaff namens Kingsland, Arkansas, geboren. Seine gesamte Kindheit verbrachte er auf der Baumwollplantage seiner Eltern, wo er zum ersten Mal mit schwarzem Blues, Spirituals und Gospel in Kontakt kam, der so genannten Race Music, die damals in amerikanischen Radiostationen unter eine strikte Segregationspolitik fiel.

Selbst Ende der Sechziger, als Cash auf dem Fernsehsender ABC drei Jahre lang eine eigene Show hatte, waren Gäste wie Stevie Wonder, Bob Dylan, Ray Charles und Louis Armstrong noch eine äußerst unpopuläre Mischung für die Personality-Show eines Country-Stars. Auf der schwarzen Liste des Ku-Klux-Klans stand Cash in den Sechzigern ganz oben. Mit den direkten Gospel-Anleihen in vielen seiner Songs - dokumentiert auf den »God«- und »Love«-CDs - belegte Cash am nachdrücklichsten die Parallelen vom Old Timey-Hillbilly/-Country und Soul. Wie Al Green, Aretha Franklin, Ray Charles und Marvin Gaye machte er in der Kirche seine prägenden musikalischen Erfahrungen, die bis heute in seinen Songs überlebt haben. Cashs beschwörende, von Reue, Schuld und existenzieller Verzweiflung getragenen Texte und seine an Spirituals angelehnten Arrangements haben ihre Wurzeln in der religiösen Musik seiner Kindheit.

Trotz der Unterschiede zwischen der traditionellen weißen und schwarzen Kirchenmusik erzählten letztlich beide von derselben Hoffnung auf Erlösung. Oder wie Cash in den Linernotes zur »God«-CD schreibt: »Natürlich gibt es verschiedene Bilder von Gott. Er offenbarte sich vielen Menschen, aber um es mal wieder auf den Boden zurückzubringen und es für uns alle einfach zu halten, Gott ist ein Gott, den man ansingt oder über den man singt. Lieder der Lobpreisung. Lieder von Wundern. Lieder der Verehrung.« Insofern ist Tarantinos Behauptung, dass Cashs Anti-Establishment-Songs »direkt ins Herz der amerikanischen Unterklasse« gezielt hätten, richtig.

Cash spielte seine besten Konzerte vor Strafgefangenen, seine Songs glorifizierten Gangster wie Machine Gun Kelly oder John Dillinger und schleppten im Unterton einen trockenen Pessimismus mit sich. Kein Cowboy-Gejaule, sondern harte »Social Music«. Cash ist der legitime Repräsentant des Amerika von unten, der die grundsätzlichen gesellschaftlichen Werte wie Zusammenhalt der Familie, Redlichkeit und Glaube, der Berge versetzt, noch vehement beschwört. Der von der unvorstellbaren Bürde des Menschen erzählt und gleichzeitig eine unerreichbare Freiheit proklamiert. Natürlich steckt hinter Cashs Outlaw-Image auch eine gehörige Portion Mackergehabe, doch sein Einsatz für die Entrechteten ließ ihn auch - als einer der wenigen Country-Musiker - öffentlich zu den Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern Stellung beziehen. Er versuchte, ihre Traditionen in seiner Musik weiterleben zu lassen.

Sein 1964 erschienenes Album »Bitter Tears« war ein Tribut an den linken Songwriter Peter La Forge, dessen Vater Oliver La Forge in Washington jahrzehntelang für die Rechte der Indianer gekämpft hatte. Als »Bitter Tears« von Radio-DJs und Medien boykottiert wurde, veröffentlichte Cash Pamphlete im Billboard Magazine, in denen er der Branche Rückgratlosigkeit und Rassismus vorwarf. Nachdem Cash und Rubin mit ihrem zweiten gemeinsamen Album »Unchained« 1997 erneut einen Grammy abgeräumt hatten, bedankten sie sich bei Nashville und den Country Radio-Stationen auch auf ganzseitigen Anzeigen mit einem Stinkefinger für den freundlichen Support: »Fuck you very much!«

In Nashville war Cash immer der »Man in Black«, der Außenseiter, dem es nicht im Traum eingefallen wäre, sich in hautengen Glitzer-Strampelanzügen auf die Bühne zu stellen, wie es in den Siebzigern in Mode gekommen war. Dafür stieg er 1986, als er von der mafiotischen Country-Industrie längst die Schnauze voll hatte, für sein Video zu »Chicken in Black« in ein übergroßes Hühner-Kostüm - was ihm eine Menge Redneck-Fans kostete. In Nashville wurde Cash ebenso geliebt wie misstrauisch beäugt - wegen der reduzierten Instrumentierung seiner Musik oder seinen Rockabilly-Roots und »Race Music«-Referenzen. Denn Cash war dem Sound von Memphis immer näher als dem von Nashville, und auf Sam Phillips' Plattenlabel Sun Records hatte er Ende der Fünfziger auch seine beste Zeit, als er mit Elvis, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis das One Million Dollar Quartet bildete.

Mit seinem begnadeten Songwriting steht er den großen Soul-Sängern auch mindestens genauso nahe, wie dem Nashville-Country. In einem Interview erzählte Cash vor einigen Jahren, dass ihm die Aufnahme in die Songwriter Hall of Fame mehr bedeutet habe als alle anderen Auszeichnungen zusammen.Mit einfachsten Mitteln gelingt es ihm, intensiv die gesamte Palette menschlicher Empfindungen widerzugeben. Nachzuprüfen auf seinem Comeback-Album »American Recordings« von 1994, auf dem er nur mit Stimme und Gitarre zum Urzustand amerikanischer Volksmusik zurückkehrt: gänsehauterzeugend und absolut substanziell.

Es war die letzte Großtat Cashs. Auf »Solitary Man«, dem jetzt erschienenen dritten Teil seiner »American Recordings«-Trilogie, ist sein schlechter Gesundheitszustand - Cash leidet an einer seltenen Krankheit, ähnlich dem Parkinson Syndrom - nicht mehr zu überhören. Seine Stimme klingt brüchig und kraftlos, zudem hat er sich wie schon auf »Unchained« zu viele Gastmusiker (u.a. Tom Petty, Merle Haggard, Sheryl Crow, Will Oldham) ins Studio geholt. Zur Morbidität gesellt sich ein Pathos, das wie ein leiser Abgesang klingt. Es heißt, dies sei seine letzte Platte. Was bedauerlich wäre. Die Vorstellung, dass die letzte Erinnerung an den schwarzen Mann eine fragwürdige Cover-Version eines U 2-Songs sein soll, ist deprimierend.

Johnny Cash: »Love, God, Murder«.

Columbia (Sony)

Ders.: »Solitary Man«. American Recordings (Sony)