Bush wird neuer US-Präsident

Eine Stimme zählt

Der neue US-Präsident George W. Bush wird weitgehend die Politik der Clinton-Regierung fortsetzen.

Am Ende war der Vorsprung auf genau eine Stimme geschrumpft. Nach fünf Wochen Streit um Lochkarten, Papierschnipsel und manuelle Zählung im Bundesstaat Florida gab am 12. Dezember das US-Verfassungsgericht den Ausschlag - mit fünf zu vier Stimmen gegen weitere Nachzählungen. Wie erwartet, gratulierte der Demokrat Al Gore daraufhin seinem republikanischen Gegner George Bush zum Wahlsieg, und beide beschworen fast gleichlautend die nationale Einheit und das demokratische System der USA.

Gore appellierte an seine Anhänger, »den Parteienstreit hinter uns zu lassen«, und Bush bekräftigte, er sei »nicht Präsident für eine Partei, sondern für eine Nation«. Wenn nicht mindestens drei republikanische Delegierte im »Wahlmänner-Kolleg« die Seite wechseln, was als extrem unwahrscheinlich gilt, dann zieht George Bush Mitte Januar ins Weiße Haus. Damit wären zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert alle zentralen Staatsorgane in republikanischer Hand: Präsidentschaft, US-Kongress - wenn auch nur mit hauchdünner Mehrheit - und das Verfassungsgericht.

Dabei scheint allen Beteiligten klar zu sein, dass Gore am 7. November nicht nur landesweit die meisten Stimmen gewonnen hat, sondern auch im entscheidenden Bundesstaat Florida. Denn nur so erklärt sich die Heftigkeit, mit der die Republikaner jede Nachzählung zu blockieren versuchten. Mit juristischen Mitteln, aber notfalls auch mit einem lautstarken Mob. So wurden am 22. November mehrere Dutzend republikanische Partei-Angestellte (»Wahlbeobachter«) nach Miami geflogen. Dort trommelten sie so lange gegen die Fensterscheiben des örtlichen Auszählungsbüros, bis der dreiköpfige Wahlausschuss die Handzählung von etwa 10 000 bisher nicht erfassten Stimmzetteln entnervt abbrach.

Die Verzögerungstaktik in Florida hatte Erfolg. Weil schließlich »keine Zeit« zum Nachzählen mehr war, erklärte das US-Verfassungsgericht de facto Bush zum Wahlsieger und - einer der wenigen Lichtblicke des Wahl-Theaters - dürfte damit seinen honorigen Ruf verloren haben. Der liberale Bundesrichter John Paul Stevens sah gleich das ganze Justizsystem in Gefahr. Bedroht sei »das Vertrauen der Nation in den Richter als unparteiischen Wächter des Rechtsstaats«, klagte Stevens nach dem Washingtoner Urteil.

Dabei beschränkte sich die Debatte fast ausschließlich auf die korrekte Auszählung der abgegebenen Stimmen. Welche Stanz-Spuren auf den Lochkarten gelten noch als eindeutig, wie zuverlässig sind die Zählmaschinen, welche Fristen sind einzuhalten?

Andere Fragen wurden erst gar nicht gestellt. Wer darf überhaupt abstimmen? Und warum beteiligt sich nur die Hälfte der Stimmberechtigten an der Wahl? In einem Land, das erst seit 35 Jahren das allgemeine Wahlrecht gesetzlich garantiert, sind solche Fragen nicht gerade nebensächlich.

So hat der Staat Florida mehr als 200 000 Menschen das Wahlrecht aberkannt, weil sie im Gefängnis sitzen oder eine Bewährungsstrafe verbüßen. Weitere 600 000 ehemalige Straftäter wurden disqualifiziert, obwohl sie ihre Strafe längst abgesessen haben. Die Namenslisten kamen von einer Privatfirma mit engen Verbindungen zu den Republikanern. Im ganzen Land wurden insgesamt mehr als vier Millionen Menschen von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen.

Weil auf den Anklagebänken und in den Gefängniszellen überdurchschnittlich viele Afro-Amerikaner sitzen, ist diese Gruppe auch überproportional betroffen. In Florida haben derzeit 31 Prozent aller schwarzen Männer ihr Stimmrecht auf Lebenszeit verloren. Obwohl sich solche rassistischen Ausschlussmechanismen besonders gegen die Wählerbasis der Demokraten richten, hat Gore diese Tatsache zu keiner Zeit thematisiert. Der schwarze Prediger und ehemalige Präsidentschaftskandidat Jesse Jackson wurde sogar zurückgepfiffen, als er in Florida antirassistische Proteste organisieren wollte. Schließlich war es gerade auch der von Clinton und Gore initiierte »Krieg gegen Drogen«, der besonders viele Afro-Amerikaner in den Knast und damit um ihr Wahlrecht gebracht hat.

Auch die Frage, warum sich nur die Hälfte aller Wahlberechtigten an Präsidentschaftswahlen beteiligt, wird von den Demokraten ignoriert. Die meisten Nichtwähler dürften wissen, dass keineswegs »jede Stimme zählt«, sondern dass die wichtigsten Entscheidungen schon in der so genannten money primary (Geld-Vorwahl) fallen. Denn nur Kandidaten, die lange vor den offiziellen primaries viele Millionen Dollars an Spenden auftreiben können, haben überhaupt eine Chance. George Bush galt bereits seit 1999 als Favorit. Er hatte damals schon rund 70 Millionen Dollar gesammelt und war in den republikanischen Partei-Vorwahlen im Frühjahr 2000 nicht mehr zu schlagen.

Weil die Demokraten einen Großteil ihrer Wahlkampfgelder von denselben Firmen wie die Republikaner beziehen, verengen die money primaries die Wahl-Alternativen auf ein äußerst schmales Spektrum in der politischen Mitte. Programmatisch lagen deswegen Bush und Gore auch gar nicht allzuweit auseinander. Bush wird die Politik von Clinton und Gore weitgehend fortsetzen - schon allein wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse im Kongress. Sicherlich wird Bush auch einige Demokraten in sein Kabinett aufnehmen, so wie Clinton den Republikaner William Cohen zum Verteidigungsminister ernannte.

Die wichtigsten Einschnitte in der US-Regierungspolitik waren ohnehin noch nie mit einem Regierungswechsel verbunden, sondern geschahen mitten in der jeweiligen Amtsperiode. Richard Nixon zog Anfang der siebziger Jahre die US-Truppen aus Vietnam ab und besuchte als erster Präsident das kommunistische China. Die Hochrüstungs- und Deregulierungsoffensiven der achtziger Jahre begannen nicht etwa mit dem Amtsantritt Ronald Reagans, sondern schon unter dem liberalen Jimmy Carter.

Politisch mögen die beiden Parteien sich gleichen, die jeweilige Massenbasis kann man jedoch auf den ersten Blick unterscheiden. Die Wähler der Republikaner sind überwiegend männlich, wohlhabend und leben in Vorstädten oder ländlichen Gebieten. Die Demokraten stützen sich auf Frauen, mittlere und untere Einkommensgruppen und die Großstädte. Das spiegelt sich auch organisatorisch wider. Die Wahlhelfer der Republikaner rekrutieren sich aus Abtreibungsgegnern, christlichen Fundamentalisten und Schusswaffen-Freaks, die der Demokraten vor allem aus Feministinnen und Gewerkschaftern.

Am auffälligsten unterscheiden sich die »ethnischen« Gruppen. So stimmten Weiße mit 54 zu 42 Prozent für Bush, Afro-Amerikaner dagegen zu 90 Prozent und Latinos zu 63 Prozent für Gore. Diese Polarisierung scheint alle anderen Kriterien zu überlagern. Gore siegte zwar bei den Frauen mit elf Punkten Vorsprung, dieses Gender Gap kommt aber nur durch die überwältigende Unterstützung von schwarzen Frauen zustande. Bei weißen Frauen lag Bush mit einem Prozentpunkt vorn.

Dabei hat die Regierung Clinton und Gore die Loyalität ihrer Anhänger oft genug auf harte Proben gestellt: »Wohlfahrtsreform«, »Drogenkrieg« und Todesstrafe richten sich vor allem gegen Afro-Amerikaner und Latinos. Dass die Demokraten trotzdem weiterhin etwa auf schwarze Kirchengemeinden bauen können, verdanken sie deren historischer Erinnerung vor allem an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung - und der Frechheit, mit der viele Republikaner weiterhin für weiße Privilegien eintreten. Daran wird auch ein afro-amerikanischer Außenminister Colin Powell wenig ändern.

Dass es im Kampf um formale Gleichstellung auch Fortschritte gibt, zeigt ein Referendum im Bundesstaat Alabama, das gleichzeitig mit der Präsidentenwahl abgehalten wurde. Es ging um eine Verfassungsklausel aus dem Jahr 1901, die so genannte Mischehen zwischen Weißen und Schwarzen verbot und schon seit etwa 30 Jahren nicht mehr angewendet wurde. Die Mehrheit stimmte dafür, die Klausel jetzt ganz zu streichen. Doch solche Fortschritte sind hart erkämpft: 544 000 Wähler, fast ausschließlich Weiße, wollten das »Mischehen«-Verbot beibehalten. Das waren 40 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Bei der Präsidentenwahl dürften diese Stimmen fast komplett an die Republikaner gegangen sein.