Die Disco als Utopie-Generator

Kirche, Wohnzimmer, Hirngespinst

Im »Loft« und in der »Paradise Garage«, zwei Discos im New York der Siebziger, wurden Modelle von Clubleben entwickelt, die bis heute wirksam sind.

Disco ist nicht gleich Disco. Disco ist alles und nichts. Disco ist ein Ort, ein Musikstil, eine Methode, ein Prinzip, Disco kann auch »alles klar« heißen, wenn man John Travolta ist und in eine Gegensprechanlage spricht. Zu guter Letzt und am Anfang ist Disco aber ein Mythos und ein Versprechen oder ganz banal eine Schallplatte. Zwei Schallplatten, genauer gesagt, darunter zwei Plattenspieler, dazwischen ein Mixer, daran eine Anlage, rundherum ein Club, und in diesem Club Menschen.

Der Club war einer der zentralen Orte der Neunziger. Nur zu vergleichen mit der Straße - vielleicht war der Club ihre nächtliche Variante, und manchmal, an den Wochenenden der Love Parade etwa, ihre logische Fortsetzung. Das, was tagsüber als universelles Versprechen in den öffentlichen Raum getragen wurde, wurde im Laufe des Abends wieder an die zuständigen Ausschüsse zurückverwiesen, in die Clubs, die Räume, die durch Türsteher von der Straße getrennt waren. Der Ort, wo die Sonne weder auf- noch untergeht, wo man bleibt, bis die Musik erlischt. All das war ziemlich aufregend, oft wurde es schon erzählt.

Doch irgendwann schlichen sich Erinnerungen ein, irgendwann wurde begonnen, den einen Laden mit dem anderen zu vergleichen. Dann wurden die Erinnerungen fiktiv, es wurde angefangen, sich in eine Tradition zu stellen, historische Genealogien zu konstruieren. Das passierte zuerst bei der Musik. In einer Parallelschaltung zur Geschichte der Rockmusik gab es da meist irgendwo Kraftwerk, mit Düsseldorf in der Rolle des Mississippi-Delta, Acid House als Beat-Musik, UK Hardcore als Black Sabbath, Ambient-Musik als Emerson, Lake & Palmer, und seit einiger Zeit steht nun schon Punk vor der Tür, wagt es aber nicht einzutreten. Stockhausen geisterte manchmal als Gerücht herum, auch Sun Ra wurde ausgemacht. Dann wurde die Geschichte des DJens geschrieben, manchmal mit philosophischem Anhang, manchmal ohne. Die Räume bekamen eine Historie, die Theken verlängerten sich in die späten Sechziger.

Diese Geschichte beginnt mit Francis Grasso. Ein Tänzer in einer New Yorker Bar, der sich eines Tages - der reguläre DJ hatte LSD geschluckt und kam nicht zur Arbeit - hinter den Plattentellern wiederfand. Platten waren da - es war die Zeit, wo eine Plattensammlung zur DJ-Kanzel dazugehörte, denn speziell fürs Auflegen gemachte Platten gab es ohnehin nicht. Der DJ war eher eine Art menschliche Jukebox, legte eine Platte nach der anderen auf, Hauptsache es wurde getanzt. Francis Grasso machte es anders. Er fing an, Platten ineinanderzumixen, auf den Beat. Ohne Geschwindigkeitsregler an den Plattenspielern wohlgemerkt, auch ohne Crossfader - nach Gehör. Vom ersten Augenblick an beherrschte er diese Technik, behauptete er später. Grasso erfand auch die Slipmat, eine Filzmatte, die er auf die Plattenteller legte, um die Platte direkt auf den Beat starten zu können: Er ließ den Teller drehen, hielt die Platte aber mit dem Finger fest, und wenn sie starten sollte, ließ er sie im richtigen Moment los.

Es war das Jahr 1969, die Krawalle von Stonewall tobten durch die Straßen des New Yorker Village: das erste Mal, dass sich die Gay Community gegen eine Polizeirazzia wehrte, der Anfang des Gay Pride und heute Anlass für den Christopher Street Day. Mittendrin legte Grasso Schallplatten auf, in einem Laden namens »Haven«.

Dies ist die Geburt des DJens als Methode, und von dem Augenblick an, wo Grasso im »Sanctuary« spielte, gab es auch den passenden Club. Das »Sanctuary« war eine ehemalige deutsche Baptistenkirche, die zur Discothek umfunktioniert worden war. Nach Protesten der Kirchen mussten die Betreiber zwar die Geschlechtsteile der überall herumstehenden Christusfiguren abdecken, aber das DJ-Pult stand weiter auf dem Altar. Als sich die Manager mit dem Geld davonmachten und die neuen Betreiber den Laden umwidmeten sowie das gesamte weibliche Personal feuerten, wurde aus dem »Sanctuary« die erste offensiv schwule Discothek New Yorks.

Es waren die frühen Siebziger, die Gay Liberation war ganz frisch, und Nacht für Nacht war das »Sanctuary« voll mit Hunderten von schwulen Männern, die tanzten, Drogen nahmen und Sex hatten. Hauptsächlich Afro-Amerikaner, aber auch viele Latinos und Weiße. Mittendrin Francis Grasso, der einzige Hetero. Als ein Journalist den Türsteher fragte, ob im »Sanctuary« eigentlich auch straighte Männer verkehren, antwortete dieser: »there he goes« und deutete auf Grasso. Grasso und seine beiden DJ-Kumpels, Steve d'Aquisto und Michael Cappallo, schluckten ebenfalls Drogen, als gäbe es kein Morgen, tanzten und hatten Sex.

Die einzigen Frauen, die ins »Sanctuary« kamen, waren die Groupies der DJs. Grasso und seine Jungs nahmen vor allem Speed - weil es Spaß machte, aber auch, um überhaupt auflegen zu können. Schließlich spielten sie Nacht für Nacht zehn bis zwölf Stunden am Stück, und alle drei Minuten musste die Platte gewechselt werden, sie legten schließlich ganz profane Singles auf. Temptations und Booker T. & the MGs, aber auch Rolling Stones oder Led Zeppelin. Grasso wurde zum Star: Eine Weile war er stadtbekannt, er war mit Liza Minelli zusammen, er hatte eine Affäre mit der Freundin von Jimi Hendrix.

Eigentlich ist schon alles da: das DJen, die exzessive Party, die Rückkoppelung an eine hedonistische Subkultur, der DJ als Zeremonienmeister auf seiner Kanzel und der DJ als Superstar. Und eines hatte Francis Grasso auch - und er war der erste: einen vernünftigen Mixer, mit dem er die Stücke ineinanderblenden konnte. Es war ein kleiner roter Kasten, den Grasso »Rosie« nannte.

Dieses Gerät baute ihm ein Mann namens Alex Rosner. Rosner war ein Überlebender des Holocaust, als Kind hatte er auf Schindlers Liste gestanden. Er war Toningineur und hatte den kanadischen Pavillon auf der New Yorker Weltausstellung von 1964 mit einer Anlage ausgestattet, der ersten Stereo-Disco-Anlage der Welt. Rosner war darauf spezialisiert, das damals noch recht neue High-Fidelity-Prinzip in großen Räumen umzusetzen. Eigentlich ist nun alles da, eins fehlt aber noch, und dass es bisher gefehlt hatte, wurde erst in dem Augenblick klar, als es da war: der perfekte Sound. Denn Rosner hatte zwar die Anlagen für das »Haven« und das »Sanctuary« gebaut, aber erst als David Mancuso ihn beauftragt, dies auch für das »Loft« zu machen, entsteht das Soundsystem. Der Standard für jede Clubanlage, die danach kommen sollte, war gesetzt.

Mancuso startete die Partys in seinem »Loft« am Broadway eigentlich als After-Hours, wo erschöpfte Discogänger hingehen konnten, um abzuhängen. Das war auch 1969. Das Ganze deklarierte er als Rent-Party, so brauchte er auch keine Lizenz, und er lud ohnehin nur seine besten Freunde ein. Eines Tages lernte er Rosner kennen und bat ihn, eine Disco-Anlage zu installieren. Doch mit dem Ergebnis war er nicht zufrieden, er bat Rosner, acht mal so viele Hochtöner einzubauen wie vorgesehen. So entstand das beste Soundsystem der Stadt, des Landes, der Welt.

Mancuso stand für ein vollkommen anderes DJ-Modell als Grasso. Ihm ging es nicht darum, sein Publikum wegzublasen und außer Kontrolle geraten zu lassen, ihm ging es um die Musik. Die frisch entstandenen DJ-Techniken wurden ihm zwar von Grasso gezeigt, Mancuso weigerte sich aber zu mixen, weil das die Integrität der Musik verletzen würde. Mancuso begann die Position des DJs umzudeuten, es ging nicht nur um die Party, es ging darum, unbekannte Stücke so lange zu spielen, bis sie bekannt waren, das Publikum mit Musik zu konfrontieren, die es nicht kannte, so lange, bis ein Stück ein Hit war. Oder darum, Hits zu spielen, die jeder kannte, und sie so lange zu spielen, bis sie keine Hits, sondern die Musik des »Loft« waren. David Mancuso erklärte Stücke zu seinen Stücken, machte sie zum sofort erkennbaren Sound des »Loft«. Mancuso machte aus dem DJ einen Antiquar, einen Geschichtenerzähler, jemanden, der dem Publikum nicht gibt, was es will, sondern spürt, was das Publikum wollen könnte. Kein Lehrer allerdings: Mancuso hob den Zeigefinger nicht, sondern er senkte ihn auf die nächste Platte, um sie dann freizugeben.

Das konnte verstrahlter Hippie-Fusion-Jazz sein, das konnten aber genauso gut Stücke sein wie »Love Is the Message« von MFSB. Selbst wenn man die Glorifizierung abzieht, die viele mit Wehmut auf die Tage zurückblicken lässt, als man noch jung und noch nicht alles so heruntergekommen wie heute war: Das »Loft« muss etwas Besonderes gewesen sein. Alex Rosner wenigstens gibt in dem Buch »Last night a DJ saved my life« zu Protokoll: »Als ich das erste Mal im ðLoftÐ war und diese Energie und Aufregung spürte, fand ich das sehr inspirierend. Ich hatte damals das Gefühl, Disco sei eine wunderbare Idee. Es war ein Mix aus Leuten verschiedener sexueller Orientierung, verschiedener ethnischer Herkunft und verschiedener Einkommensklassen. Eine echte Mischung und der gemeinsame Nenner war die Musik. Ich zog mein Hemd aus und tanzte.«

Es war extrem schwierig, ins »Loft« hineinzukommen, nicht weil der Tüsteher so streng gewesen wäre, sondern weil Mancuso nur seine Freunde und die Freunde seiner Freunde einlud. Wer lässt schon jeden in sein Wohnzimmer? Unter der Woche wohnte Mancuso schließlich in den Räumen. Doch jeder, der einmal da gewesen war, pries noch Jahre später die besondere Atmosphäre. Es gab keinen Alkohol, nur Saft, es gab Früchte und Nüsse. 25 Jahre lang existierte das »Loft«, an unterschiedlichen Orten, immer mit dem gleichen Konzept.

Und das »Studio 54«? werden jetzt einige fragen, geht es hier nicht um Disco? Bianca Jagger auf dem Schimmel, Kokain auf der Bar und Andy Warhol mittendrin? Was ist mit dem »Studio 54«? Nichts ist mit dem »Studio 54«. In dieser Geschichte soll es um Modelle gehen, die utopische Momente generierten und in die Welt setzten, die von Gleichheit vor dem Beat handelten, Modelle, die zeigen, warum Gott ein DJ werden konnte - kurz: um Clubs, die angetrieben wurden von der Besessenheit eines Einzelnen und seinem Umfeld, um Wenige, die einen perfekten Ort für Viele zu schaffen versuchten, einen Ort, der kein Draußen kennt. Ein semi-öffentlicher Raum der Vertrautheit und der Hingabe. Eine Kirche, ein Wohnzimmer, ein Hirngespinst. Modelle, die sich vielleicht aus bestimmten Situationen von selbst ergeben und nur im Nachhinein erkannt werden können, die vielleicht aber auch irgendwo im kollektiven Unbewussten der Leute schlummern, die sich die Nächte um die Ohren schlagen, weil sie auf der Suche nach etwas sind, weil sie ein Versprechen eingelöst haben wollen.

Vielleicht sind deshalb im gerade zu Ende gehenden Jahr mehrere Compilations herausgekommen, die sich dem Sound widmen, der in diesen Clubs lief - auch wenn eine »Studio 54«-Platte sich davon wahrscheinlich gar nicht groß unterscheiden würde. Doch auf ihr hätte »Glamour und Celebrities« geprangt. Auf den »Loft«- und »Paradise Garage«-Platten steht: »Paradies auf Erden«.

Die »Paradise Garage« und das »Studio 54« öffneten 1977 mit wenigen Wochen Abstand. Doch wenn »Studio 54« den Höhepunkt des Disco-Craze bildete, war die »Paradise Garage« der Laden, der die Überreste von Disco in das nächste Jahrzehnt tragen sollte. Beide Läden wurden auch von Celebritys besucht, doch wenn sie ins »Studio 54« gingen, wollten sie gefeiert werden, wenn sie in die »Paradise Garage« gingen, wollten sie feiern. Es war der Laden von Larry Levan.

Levan war Sohn einer Kleidermacherin aus Brooklyn, und zusammen mit seinem besten Freund Frankie Knuckles - der später einer der Väter der House-Musik in Chicago werden sollte - zog er als Jugendlicher um die Häuser. Er war regelmäßig Gast im »Loft«, fing an, in Clubs als Dekorateur zu arbeiten, bis er irgendwann begann, Platten aufzulegen: in den »Continental Baths«, einem schwulen Badehaus-Komplex, den Frankie Knuckles erst nicht wagte zu betreten, um dann aber gleich drei Wochen zu bleiben. Irgendwann fing Levan an, seinen ersten eigenen Club zu betreiben, »Reade St.«, der aber schließen musste. Dann kam die »Paradise Garage«, das Paradies im Parkhaus.

Wenn das »Loft« ein Wohnzimmer war, das regelmäßig zum Club wurde, dann war die »Paradise Garage« ein Club, der unter der Woche zum Wohnzimmer wurde. Das Wohnzimmer von Larry Levan, der, wenn der Club geschlossen war, in einem fort an der Anlage herumbastelte, Boxen verschob, das Licht veränderte oder die Dekoration umbaute. Manchmal öffnete er Stunden zu spät, weil noch nicht alles perfekt war.

Auch die »Paradise Garage« war ein Membership-Club, allerdings gab es mehrere Tausend Membership-Cards, die die Mitglieder auch dazu berechtigten, Gäste mitzubringen. Genau wie im »Loft« wurde kein Alkohol ausgeschenkt, deshalb brauchte der Laden auch keine Lizenz und konnte geöffnet haben, so lange die Betreiber wollten. Alkohol brauchte aber auch niemand, denn ansonsten wurden alles geschluckt oder geschnupft, was der Markt hergab. Der Samstag war gay, der Freitag gemischt. Die Zeiten hatten sich allerdings geändert. Die Disco-Industrie war mit großem Getöse zusammengestürzt, in Chicago gab es sogar öffentliche Verbrennungen von Discoplatten, die homophobe Parole »Disco sucks!« wurde zum geflügelten Wort. Das war das eine. Aids begann viele von denjenigen, die die Discoszene in den Siebzigern getragen hatten, dahinzuraffen. Das war das andere. Die »Paradise Garage« war auch ein Tempel, der Schutz bot vor den Widrigkeiten des Draußen.

Der Prediger in der Garage war Larry Levan auf seiner DJ-Kanzel, von wo aus er nicht nur seine Musik spielte, sondern auch das Licht kontrollieren konnte. Er war weit davon entfernt, technisch perfekt aufzulegen, trotzdem gilt er heute als der beste DJ, der je auf Gottes Erdenrund wandelte. Im Unterschied zum schüchternen Mancuso war Levan expressiv und impulsiv. Und er spielte nicht nur seine Platten, er spielte den ganzen Club - mit sich selbst im Mittelpunkt. Manchmal machte er das Licht aus, inklusive der Notbeleuchtung, spielte in der Finsternis eine Platte und machte mit dem nächsten Stück die Beleuchtung wieder an.

Jedes DJ-Set war ein Drama. Levan war eine Diva. Durch seine Platten sprach er zur Tanzfläche. Er spielte Disco, Funk, Soul, Reggae, New Wave, HipHop, Electro - alles, was übrig blieb oder sich neu entwickelte, nachdem Disco als Mainstream-Phänomen den Weg alles Irdischen gegangen war. Auch Garage natürlich, die Musik, die nach dem Laden benannt wurde.

»Larry war fürchterlich. Er war zu laut, er ließ Lücken zwischen den Stücken, die Platten sprangen, mitten in der Nacht spielte er Balladen - aber das war nur fünf Prozent des Ganzen. Denn auf der anderen Seite kreierte er eine Atmosphäre, die nie wieder jemand herstellen konnte. Es fühlte sich an, als würde er die Platten in deinem Wohnzimmer spielen. Seine Verbindung mit der Menge war einmalig. Wenn du in den Club gegangen bist und eine Glühbirne war rot und nächste Woche war sie blau, dann sagten die Leute, Larry hat diese Glühbirne ausgewechselt«, sagt DJ Bruce Forrest, einer der regelmäßigen »Paradise-Garage«-Gänger.

1987 musste die »Paradise Garage« schließen, 1992 starb Larry Levan an Herzversagen.

Bill Brewster / Frank Broughton: Last Night a DJ saved my life. Grove Press, New York 2000, 434 S., 14 Dollar

»David Mancuso presents The Loft - Vol. Two«. Nuphonic (Groove Attack)

»Larry Levan Live at the Paradise Garage«. Strut (Groove Attack)

V.A.: »Disco Not Disco«. Strut (Groove Attack)