Enthüllungen über den Staatsstreich in Marokko 1972

Putsch mit Langzeitfolgen

Die Vorläuferin von Marokkos sozialdemokratischer Regierungspartei soll sich 1972 am Putsch gegen den König beteiligt haben

Man sollte Regierungsversprechen nie zu wörtlich nehmen - eine alte Erfahrung, die Marokkos Opposition erneut machen musste. Am vorvergangenen Sonntag hielt Mohammed VI. eine Rede zum Jahrestag der »Universellen Erklärung der Menschenrechte« von 1948. Darin forderte der junge König aus der Alaouiten-Dynastie die Bevölkerung auf, sich für eben jene Menschenrechte zu engagieren.

In strikt getrennten Demonstrationen versuchten zwei unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte, den Monarchen beim Wort zu nehmen. Einerseits organisierte die Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) ein Sit-in vor dem Parlament in Rabat. Sie forderte die vollständige Aufklärung der Fälle von »Entführungen, willkürlichen Verhaftungen und Folterungen«, die Regimekritiker in den »bleiernen Jahren« zwischen Anfang der siebziger und Anfang der neunziger Jahre zu erleiden hatten. Bereits in der Vorwoche hatte die AMDH im Parlament die Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses sowie die Einleitung strafrechtlicher Schritte gegen 16 namentlich genannte hochrangige Militärs und Polizeioffiere, die für Folterungen verantwortlich sein sollen, gefordert.

Unter dem Druck der westlichen Großmächte, seiner Kreditgeber von IWF und Weltbank und seiner traditionellen Schutzmacht Frankreich hat Marokko in den neunziger Jahren eine gewisse innenpolitische Liberalisierung durchgeführt. Nach dem Ende der bipolaren Blockordnung sollte Unterstützung nur noch jenen Regimes zukommen, die ein Mindestmaß an Demokratisierung und Transparenz übten, da man diverse ultra-korrupte und daher auch ökonomisch ineffektive Herrscherclans nicht länger zu unterhalten gedachte. Zumal diese bei ihren Bevölkerungen verhasst waren und daher nicht auf Dauer politische Stabilität garantieren konnten.

Auch Mohammed VI. setzte den innenpolitischen Lockerungskurs nach dem Tod seines Vaters Hassan II. im Sommer 1999 fort. Er schuf einen mit zwölf Millionen Dollar ausgestatteten Entschädigungsfonds, aus dem »Opfer von Menschenrechtsverletzungen« Geld erhalten sollen. Die Strafverfolgung von Folterknechten und ihren Herren im Staatsapparat war jedoch nicht vorgesehen. Und schon gar nicht gedachte der Monarch, sich von unabhängigen Organisationen unter Druck setzen zu lassen. Die Teilnehmer an dem Sit-in der AMDH wurden daher sogleich von der Polizei abgeräumt, es gab drei erheblich Verletzte in ihren Reihen und gegen 41 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.

Am folgenden Tag versuchten radikale Islamisten, die Straße zu besetzen. Sie forderten das Ende der behördlichen Schikanen gegen ihre Organisationen. Rund 300 Anhänger der Islamisten demonstrierten in der Hauptstadt Rabat, 6 000 in der Hafenstadt Casablanca. Dabei kam es ebenfalls zu Festnahmen.

Nach den nicht überprüfbaren Angaben islamistischer Vereinigungen kamen die Sicherheitskräfte auf 778 Festnahmen, wovon 291 zur Einleitung von Strafverfahren führten. Wenn allerdings radikale Islamisten sich auf die Grundrechte berufen, so ist das zumindest zweideutig, weil sie sich zugleich im Armee- und Polizeiapparat verankern und sich dort als Speerspitze gegen Linke und Feministinnen anbieten.

Die Reaktionen der Monarchie auf die jüngsten Demonstrationen stießen auf umso größere Aufmerksamkeit, als am 2. Dezember drei marokkanische Wochenzeitschriften verboten worden waren. Urheber des Verbots von Le Journal, As-Sahifa und Demain war allerdings nicht das Königshaus, sondern die von der sozialdemokratischen USFP (Sozialistische Union der Volkskräfte) geführte Regierung, die im März 1998 als »Regierung der demokratischen Öffnung« unter Abderrahmane Youssoufi installiert worden war. Der alternde Hassan II. erhoffte sich von der Einbindung der legalen Opposition in die Regierung eine Systemstabilisierung.

Das Verbot traf zunächst die zwei im Zuge der innenpolitischen Liberalisierung 1997/98 gegründeten Zeitschriften Le Journal und Es-Sahifa. Beide hatten am 25. November einen undatierten Brief des Sozialistenführers Mohammed Basri veröffentlicht, den er 1974 an den heutigen USFP-Generalsekretär, Abderrahim Bouabid, und an den jetzigen Premierminister Youssoufi geschickt haben soll. Aus dem Brief geht hervor, dass die Führung der damaligen UNFP - einer antikolonial-populistischen Partei und Vorläuferin der USFP - 1972 an den Vorbereitungen des Putschversuchs von General Oufkir beteiligt gewesen war.

Der General hatte bis dahin die Repression unter dem despotischen Hassan II. organisiert. Oufkir stand in Verbindung mit dem libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi und versuchte 1971/72, die Vorherrschaft seines Königs abzustreifen. Bereits 1965 hatte Hassan II. den früheren Chef der Linkspopulisten, Mehdi Ben Barka, in Paris ermorden lassen. Zeitweise führungslos und von der Repression gebeutelt, setzte die UNFP - den Wahrheitsgehalt der jüngsten Veröffentlichungen vorausgesetzt - auf ein taktisches »Bündnis mit dem Teufel«.

Der Putsch scheiterte, General Oufkir wurde als »Verräter« aus dem Zentrum der Macht fortan zum Erzfeind Hassans II., der über diese Affäre der Paranoia verfiel. Nach dem dubiosen »Selbstmord« Oufkirs 1972 ließ der Monarch Oufkirs Frau und zehn Kinder sowie 58 Offiziere im geheimen Zuchthaus von Tazmamart für 18 Jahre einsperren, was erst 1991 an die Öffentlichkeit kam.

Die »Enthüllung« einer Verwicklung der marokkanischen Sozialdemokratie in den Putschversuch rief heftige Reaktionen hervor, zumal die spätere USFP sich nach dem blutigen Scheitern des »Abenteuers« von 1972 völlig auf die Linie einer staatstreuen und patriotischen Opposition eingeschwenkt war, die brav auf die Möglichkeit der legalen Regierungsbeteiligung wartete.

Doch noch weitere Konflikte stehen hinter dem Verbot der drei Presseorgane. Zum einen wurde die Zeitschrift Demain, die den fraglichen Brief nicht dokumentiert, sondern ihn nur wie die gesamte übrige Presse kommentiert hatte, anscheinend aus anderen Gründen gleich mitverboten. Demain hatte die Behörden verärgert, da sie fundierte Recherchen über die Verwicklung höchster Staatsfunktionäre in den Drogenhandel publiziert hatte.

Die beiden anderen verbotenen Zeitschriften, die eher dem modernistisch-liberalen Spektrum der marokkanischen Gesellschaft angehören, zogen wiederum den Verdruss der USFP-Regierung auf sich, weil sie deren »Scheitern« bei der Durchführung von IWF-Auflagen und Privatisierungen anprangerten. So kritisiert der IWF derzeit die Regierung in Rabat harsch, weil sie die Auflage der Weltbank, die Löhne der öffentlich Bediensteten von elf auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren, nicht nur nicht erfüllte, sondern diese Quote gar auf 12,8 Prozent anwachsen ließ. Zugleich kritisierte Le Journal etwa die Langsamkeit, mit der die Privatisierung von 35 Prozent der marokkanischen Telekom beginnt.