EU-Vertrag von Nizza

Sieg des Riesen

Gewinner sehen anders aus. Übermüdet und abgekämpft präsentierte der französische EU-Ratspräsident Jacques Chirac am Montag vergangener Woche den Vertrag von Nizza. Die Verhandlungen seien ein Erfolg gewesen, behauptete er, die französische Position in der Union sei gestärkt. Tatsächlich ist genau das Gegenteil geschehen. Insbesondere die Konsequenzen, die sich aus der neuen Stimmengewichtung im Ministerrat ergeben, bedeuten für Paris eine schwere Niederlage.

Frankreich wollte in jedem Falle die symbolische Stimmengleichheit mit Deutschland bewahren. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hatten in der Nachkriegszeit die Bundesrepublik aufgewertet, die im Gegenzug auf alle hegemonialen Ansprüche verzichtete. Heute fürchtet sich die politische Klasse Frankreichs wieder vor der ökonomischen und demographischen Überlegenheit Deutschlands.

Im Konflikt um die künftige Machtverteilung in der Union erzielte die französische Delegation einen Pyrrhussieg. Zwar bleibt die Stimmengleichheit mit Deutschland im Ministerrat bestehen. Doch die deutsche Delegation erreichte dafür weit größere Zugeständnisse, als sie selbst erwartet hatte.

Die Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat müssen künftig - neben 74 Prozent der Ratsstimmen und 50 Prozent der Staaten - auch mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Deutschland kann auf dieser Grundlage nun als einziges Land gemeinsam mit zwei weiteren größeren EU-Staaten jede Entscheidung blockieren. Zusätzlich wird die deutsche Vertretung im Europäischen Parlament ausgeweitet.

Nach dem Vertrag von Nizza ist Deutschland der mit Abstand mächtigste Staat in der Union. Dabei konnten sich die deutschen Delegierten auf dem Gipfel vornehm zurückhalten und die Franzosen alle Ungeschicklichkeiten gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten begehen lassen.

Dies gilt insbesondere für die französische Forderung, dass die kleinen Staaten nicht mehr unbedingt in der künftigen Kommission vertreten sein sollen. Deutschland hingegen konnte sich als Schirmherr der weniger einflussreichen EU-Mitglieder präsentieren. Auch die osteuropäischen Beitrittskandidaten verlassen sich vorwiegend auf Berlin, um ihre Wünsche durchzusetzen.

Am Ende erhielt Polen gegen den ausdrücklichen Willen Frankreichs die gleiche Stimmenanzahl wie Spanien. Und was die Frage nach der Repräsentanz der Mitgliedsländer in der EU-Kommission betrifft, wurde nur beschlossen, dass nichts entschieden ist. Erst nach dem Beitritt von zwölf EU-Kandidaten soll erneut über eine Reduzierung der Kommission abgestimmt werden. Auch dieses Ergebnis bedeutete einen Sieg für Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Dieser wurde während der Verhandlungen von dem polnischen und dem litauischen Regierungschef angerufen, damit er ihnen einen ausreichenden Anteil im Ministerrat sichere. »Die Zeiten, da Deutschland ðein wirtschaftlicher Riese und ein politischer ZwergÐ war, sind längst vobei. Und da der neue ðpolitische RieseÐ eher beruhigend wirkt, wenden sich die europäischen Länder ihm zu«, kommentierte Le Monde.

Zudem habe Schröder vor dem Gipfeltreffen, gleichzeitig mit Chirac, die europäischen Hauptstädte besucht, um sich als Vermittler anzubieten. »Eine Rolle, die traditionell der EU-Ratspräsidentschaft vorbehalten ist«, wie Le Monde bemerkte. Schröder hat bereits mit dieser Reise signalisiert, wer seiner Meinung nach in der EU das Sagen hat. Die Ergebnisse von Nizza haben ihn bestätigt.