Prozess gegen Julius Viel

SS-Männer unter sich

Das Ravensburger Landgericht führt einen Prozess gegen den ehemaligen Untersturmführer Julius Viel.

God is on my side.« Viel mehr antwortet Adalbert Lallier nicht auf die Fragen der um Interviews anstehenden Reporter im großen Saal des Ravensburger Landgerichts. Der Mann muss aufpassen, was er sagt. Schließlich tritt der emeritierte Professor für Volkswirtschaft und Internationale Politik als einziger Augenzeuge im Mordprozess gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Julius Viel auf. Und bei vier Vernehmungen sowie einer ganzen Reihe von Fernseh- und Zeitungsinterviews innerhalb von dreißig Monaten ist die Gefahr, sich in Einzelheiten zu widersprechen, nicht gerade gering. Vor allem wenn das, wovon berichtet wird, über 55 Jahre zurückliegt, und einige Leute die Aussagen penibel vergleichen.

Ingo Pfliegner etwa, der Wahlverteidiger Viels, hatte vom 13. bis 15. Dezember, den medialen Großkampftagen der zweiten Verhandlungswoche, mit dem aus Kanada angereisten Lallier nichts anderes im Sinn, als ihm widersprüchliche Äußerungen nachzuweisen. Die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen ist die zentrale Frage, wenn in Deutschland mutmaßliche NS-Verbrecher auf der Anklagebank sitzen.

Damit kein Missverständnis aufkommt, Lallier war wie Viel Mitglied der Waffen-SS. Unter den 34 Zeugen, die bis Ende Februar vor dem Schwurgericht in Ravensburg aussagen sollen, befindet sich mit Richard Löwy nur ein Überlebender der nationalsozialistischen Mordmaschinerie. Hauptsächlich ehemalige SS-Männer, einstmals Untergebene Viels an der SS-Führerschule in Leitmeritz, erhielten eine Ladung nach Ravensburg.

Im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1965 nach zwanzig Monaten zum Abschluss kam, waren noch gut zwei Drittel der 359 vernommenen Zeugen ehemalige Häftlinge. Neben der Verurteilung der Täter gelangte mit diesem größten NS-Verfahren in der deutschen Prozessgeschichte erstmals die Darstellung der Shoah aus Sicht der Opfer ins Blickfeld der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Überlebende wie das ehemalige Mitglied des Birkenauer »Sonderkommandos« Filip Müller berichteten tagelang ausführlich über die Einzelheiten des Vernichtungsprozesses. Wer heute die Tonbandmitschnitte der »Strafsache gegen Mulka und andere« anhört, dem schwindet die Vorstellung, er wisse längst darüber Bescheid, was in den Menschenschlachthäusern der Nazis geschah.

Zu Beginn der zweiten Verhandlungswoche in Ravensburg verliest der Beisitzende Richter Hutterer einen vom 31. August 1961 datierten, an das Bezirksgericht Graz gerichteten Brief des inzwischen verstorbenen Heinrich Widmayer. In den folgenden Minuten wird begreiflich, wie ein NS-Prozess aussehen kann, wenn er auf die Opferperspektive zulässt: Mitte März 1945, so der spätere österreichische Nationalrat Widmayer, mussten die Gefangenen der »Kleinen Festung Theresienstadt« einen Graben ausheben, der die vorrückenden Panzer der Roten Armee aufhalten sollte. Fast täglich seien Mithäftlinge auf dem Rückmarsch von der Panzersperre erschlagen worden.

Der stellvertretende Kommandant des Gestapo-Kerkers, Rojko, habe nach Lust und Laune seine Kapos angewiesen, Häftlinge am Graben zu töten. Die Wachmannschaften, SS-Männer aus dem nahen Leitmeritz, hätten sich einen »Sport« daraus gemacht, die zur Arbeit Verdammten mit Zigaretten aus dem Bewachungskreis zu locken, und sie dann »auf der Flucht erschossen«. Insgesamt seien mindestens 100 Häftlinge beim Graben getötet worden.

An diesem Panzergraben soll auch Julius Viel gemordet haben. Sein ehemaliger Untergebener auf der nur wenige Kilometer von Theresienstadt entfernten SS-Führerschule in Leitmeritz, Adalbert Lallier, beschuldigt ihn der Tat. Lallier will gesehen haben, wie der Untersturmführer aus einer Gruppe von Offizieren getreten sei, ein Gewehr in die Hand genommen und »ruhig und konzentriert« sieben Häftlinge erschossen habe, vermutlich Juden. Viel bestreitet die Tat.

Aber es ist nicht das erste Mal, dass gegen den mittlerweile 82jährigen Rentner ermittelt wird. Anfang der sechziger Jahre trat schon einmal ein Zeuge von der SS-Führerschule in Leitmeritz auf, der Viel des Mordes an Häftlingen der »Kleinen Festung« beschuldigte. Im Lauf der Ermittlungen starb der Mann jedoch, und das Verfahren wurde 1964 eingestellt. Die Akten gelangten zur Oberstaatsanwaltschaft Aachen und verschwanden dort. Julius Viel arbeitete weiter als Redakteur der Stuttgarter Zeitung und wechselte 1973 zur Schwäbischen Zeitung, wo ihm, wie eine ehemalige Kollegin heute bekundet, durchaus »der Ruch des Nazis« anhaftete. Seit 1983 trägt er das Bundesverdienstkreuz.

»Wieso sitzen wir jetzt hier?« Die Frage, die der Vorsitzende Richter Winkler am 13. Dezember Adalbert Lallier stellt, scheint banal, vielleicht sogar zynisch. Doch sie zielt auf den Kern des Verfahrens. Warum wurde Julius Viel nicht schon längst, sagen wir vor einem halben Jahrhundert, angeklagt? Weil in der Bundesrepublik der frühen fünfziger Jahre das Interesse nicht groß war, NS-Verbrechen zu ahnden, und weil nach den Nürnberger Prozessen, die ursprünglich als Muster für weitere Verfahren dienen sollten, der Kalte Krieg die Politik der Alliierten bestimmte.

Sowohl der US-amerikanische Geheimdienst CIC als auch ein Benediktinermönch in der Wiener Schottenkirche, denen Lallier unmittelbar nach Kriegsende von den Morden am Panzergraben erzählt hatte, behielten ihr Wissen für sich. Der ehemalige SS-Mann Lallier, der in Kanada eine Universitätskarriere machte, brauchte fünfzig Jahre, um über das Vernichtungssystem der Nazis, an dem er beteiligt war, auszusagen. Am 30. April 1997, nach einem Besuch in Theresienstadt, nahm er Kontakt zu Steven Rambam auf, einem Privatdetektiv. »His name is Julius Viel«, sagte er zu ihm. Drei Tage später wusste Rambam, wo Viel wohnte: in Wangen-Deuchelried, Landkreis Ravensburg.

Am Landgericht Ravensburg, wo Rambam am vergangenen Freitag als Zeuge auftrat, begegnen einige dem US-amerikanischen Juden und »Nazijäger« mit nur mühsam verhohlenem Ressentiment. Nicht nur Rechtsanwalt Pfliegner verdächtigt ihn des Deutschenhasses. Der Anwalt wagt die Bemerkung, Rambam wollte seiner Frau nicht die Hand geben. Der ehemalige Waffen-SSler Lallier dramatisiert dagegen seine Entscheidung, nach einem halben Jahrhundert gegen einen Vorgesetzten auszusagen, mit Worten, die noch von den alten faschistischen Kategorien zeugen: Ende der neunziger Jahre sei er vor »der schwersten Entscheidung seines Lebens gestanden«, nämlich sich »vom Treueid des Schweigegebots der SS zu trennen«.

Für die anderen bisher vernommenen ehemaligen Kameraden von der Führerschule in Leitmeritz, die alle bis auf einen nichts gesehen haben wollen, gelte immer noch der Wahlspruch: »Unsere Ehre heißt Treue.«