Michael Burleighs »Die Zeit des Nationalsozialismus«

Das Credo des Racial State

Nicht immer ganz überzeugend schreibt der britische Historiker Michael Burleigh seine bahnbrechende Studie zum deutschen Rassenstaat fort.

Zehn Jahre ist es her, dass Michael Burleigh zusammen mit Wolfgang Wippermann »The Racial State« publizierte. Der britische Historiker und sein Co-Autor haben sich mit diesem Werk bleibende Verdienste erworben; zum ersten Mal wurde mit dieser Studie das »Dritte Reich« aus seinem ideologischen Zentrum, der nationalsozialisten Rassenpolitik, interpretiert. Burleigh und Wippermann haben sich mit dieser Studie insbesondere auch gegen konkurrierende historiografische Konzepte, z.B. gegen die Totalitarismustheorie, gewandt, die zu diesem Zeitpunkt wieder im Aufschwung begriffen waren. »Das Dritte Reich«, so begründeten sie, »war eher als Rassen- denn als Klassengesellschaft konzipiert. Allein diese Tatsache lässt bestehende Theorien, basieren sie nun auf Modernisierung, Totalitarismus oder globalen Faschismustheorien, zu unzureichenden heuristischen Mitteln für ein tieferes Verständnis dessen werden, was ein singuläres Regime ohne Vorläufer oder Parallelen war.«

Burleigh hat nun eine »Gesamtdarstellung« des Nationalsozialismus (Untertitel) veröffentlicht. Anders als »The Racial State«, das noch immer nicht auf Deutsch vorliegt, wurde das neue Buch sofort ins Deutsche übersetzt. Beim Blick in die Einleitung wird auch sofort klar, warum. Als »generellen Deutungsansatz, von dem aus es geschrieben ist«, stellt Burleigh die Interpretation des Nationalsozialismus »als eine politische Religion« und »als eine totalitäre Herrschaftsform« vor. Zwei Theorien also, die eindeutig unter Burleighs eigenes Verdikt aus »Racial State« fallen und für die auch heute nicht viel mehr spricht, als dass sie in den letzten Jahren wieder mächtig in Mode gekommen sind. Revidiert Burleigh mit dieser »Gesamtdarstellung« also die in »The Racial State« gewonnenen Erkenntnisse?

Das erste Kapitel, das sich der Geschichte der NSDAP vor 1933 widmet, scheint diese Annahme zu bestätigen. Nicht nur, dass Burleigh hier wenig Erhellendes zur Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus zu berichten weiß. Er reproduziert auch gleich eine ganze Reihe gängiger Mythen der Weimarer Geschichtsschreibung. So wird z.B. behauptet, dass das Bündnis der Mehrheitssozialdemokratie mit den alten Eliten während der Novemberrevolution eine drohende bolschewistische Revolution verhindert habe. An anderer Stelle behauptet er, dass ein starker und selbstbewusster Konservatismus den Aufstieg des Nationalsozialismus hätte bremsen können.

Dennoch wird in »Die Zeit des Nationalsozialismus« die Grundthese vom »Racial State« verteidigt, allerdings gelingt es nicht, sie überzeugend weiterzuentwickeln. Am Ende des Bandes fasst Burleigh seine Interpretation bündig zusammen: »Die rassistisch motivierte verbrecherische Praxis des NS-Regimes durchzieht dann auch als roter Faden dieses Buch, zumal sie tatsächlich keinen Aspekt der deutschen Wirklichkeit jener Zeit unbefleckt ließ: Es gibt nichts, was man losgelöst von diesem entsetzlichen Geschehen betrachten könnte, weder die Wirtschaftspolitik der Nazis, noch ihre Unterhaltungsindustrie, und auch nicht den militärischen Verlauf des Krieges. Es gibt keine ðnormaleÐ deutsche Geschichte, die irgendwie neben dem Holocaust hergelaufen wäre, und der Holocaust hält sich auch nicht an gedankliche Einfriedungen, hinter die wir ihn vielleicht gerne verbannen würden, sondern reißt alle Barrieren nieder.«

Burleighs Analyse hält einige grundlegende Einsichten in den Charakter des Nationalsozialismus bereit, die so nur auf der Basis der These vom Rassenstaat zu gewinnen sind. So betont der Autor immer wieder, dass es sich beim Krieg im Osten nicht um einen normalen oder auch nur besonders brutal geführten Krieg gehandelt habe, sondern um einen »Rassenkrieg«, in dem der eigentliche Feind das Judentum war. Burleigh betont, dass der Antisemitismus das Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie ausmacht und dehalb auch nicht mit den anderen Elementen der Rassenideologie gleichzusetzen ist. Aus diesem Verständnis der Vernichtungspolitik heraus spricht er sich dann auch explizit gegen die neuerdings üblich gewordene Subsumierung des Holocaust unter eine Geschichte von »ethnischen Säuberungen« aus und lehnt dabei insbesondere eine Analogisierung mit der Politik der serbischen Führung in Jugoslawien ab.

Entschieden wendet er sich auch gegen eine Historiografie des Nationalsozialismus, die den Motiven der Täter kaum Beachtung schenkt und den Holocaust allein politischen und ökonomischen Strukturen zuschreibt. Nicht zu Unrecht mutmaßt er, dass es sich bei solchen Ansätzen um bewusste oder unbewusste Versuche handelt, zumindest den größten Teil der deutschen Bevölkerung von der Verantwortung frei zu sprechen. Ohne die faktische Bedeutung von politischen, sozialen oder auch psychologischen Strukturen zu bestreiten, schlägt sich Burleigh auf die Seite der Intentionalisten, die den Willen der Deutschen zur Vernichtungspolitik betonen und nach dessen Ursachen fragen. So kommt Burleigh zu einer zentralen These, die vielleicht seine interessanteste ist. Die Frage, woraus sich die Entscheidung der Nazis erklärt, ihr Vernichtungswerk auf das gesamte europäische Judentum auszudehnen, lässt sich für ihn nicht mit dem Hinweis auf Rationalisierung, rückständige Volkswirtschaften oder Umsiedlungspläne beantworten, sondern nur mit einem »durch Sicherheitsfragen verschärften Antisemitismus«. Zu dem Zeitpunkt, als der Kriegsverlauf sich gegen die Deutschen zu wenden begann, »ergriffen die NS-Oberen die Flucht vor einem militärischen Geschehen, das sie nicht mehr im Griff hatten, indem sie sich der Vollendung ihrer vermeintlichen geschichtlichen Hauptaufgabe, nämlich der Ausrottung der Juden, zuwandten«.

Allerdings werden diese weitreichenden Einsichten Burleighs durch die dem Material mit roher Gewalt aufgezwungenen religiösen Analogien immer wieder konterkariert. Nicht aus diesem Material, sondern aus den theoretischen Vorgaben des Konzeptes der »politischen Religionen« wird ein Messianismus der Nazis abgeleitet, der aus dem Rassenkrieg einen »messianischen Rassenkrieg« macht. Eine Interpretation, wonach Hitler ein Messias ist, die Deutschen seine Gläubigen sind und diese Gemeinschaft auf den Verlust der traditionellen Religionen reagiert, erklärt nichts, sondern verklärt lediglich das religiöse Verlangen zu einer quasi-anthropologischen Konstante. Ähnlich gewaltsam stellt Burleigh Analogien zur Politik der Sowjetunion her.

Die Besatzungspolitik der Sowjets in Ostpolen stellt für ihn den »spiegelbildlichen Vorgang« zur deutschen Besatzungspolitik im Westteil des Landes dar. Wenige Zeilen später betont er hingegen die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen: »Der Holocaust war mehr als die Gesamtsumme aller eskalierenden Bösartigkeiten, die verfeindete Völker einander zufügen können.« Burleigh liefert hier ein zentrales Argument gegen jedwede Form der Totalitarismustheorie: Ähnliche oder gar gleiche Geschehnisse bedeuten noch lange nicht, dass es sich um dasselbe Phänomen handelt.

Das Bekenntnis des Autors zum Ansatz der »politischen Religionen« und zur »Totalitarismustheorie« ist wohl dem Bestreben geschuldet, endliche eine kohärente Interpretation des Nationalsozialismus zu leisten, etwas, das in dieser Form tatsächlich noch nicht vorliegt. Burleigh hätte allerdings besser daran getan, seine Darstellung des Nationalsozialismus als Ideologiegeschichte des Racial State fortzuschreiben, anstatt sie zu einer »Gesamtdarstellung« aufzublasen. Dann hätte er die von ihm selbst widerlegten Theorien gar nicht erst gebraucht.

Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. Verlag S. Fischer, Frankfurt a.M. 2000, 1 088 S., DM 88