Ein Jahr Einwanderungsdebatte

In der deutschen Diskothek

Was meint Rita Süssmuth, wenn sie keine »rein ethnisch ausgerichteten Sportvereine« mehr will? Ein Rückblick auf die Rassismen der Einwanderungsdebatte.

Im Millenniumsjahr diskutierte die Nation über Kampfhunde und BSE und vor allem über Einwanderung. Spontan machte der Kanzler sein Volk während der Computermesse mit einer neuen Spezies vertraut: dem so genannten Computer-Inder. Seitdem wurde aus einem beharrlich verteidigten Nicht-Einwanderungsland in beängstigender Geschwindigkeit doch ein Einwanderungsland. Plötzlich spielte das Volk, dessen Belastungsgrenze während des letzten Jahrzehnts bekanntlich mehrfach überschritten wurde, keine Rolle mehr. Die Wirtschaft hatte nach Einwanderung verlangt, und erwartungsgemäß waren die politischen Eliten diesem Wunsch nachgekommen. Flugs wurde die Zivilgesellschaft mit Hilfe der Medien neu orientiert. Der innere Feind hieß nun nicht mehr Ausländer, sondern Nazi. Hat sich das Koordinatensystem der deutschen Einwanderungsdebatte dadurch tatsächlich verschoben?

Zunächst stellen die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechtes 1999 und die politische Anerkennung von Einwanderung im Jahr 2000 einen bedeutenden Wechsel dar. Doch mit Blick auf die Geschichte der Migration in die BRD und bei näherer Beleuchtung des Kontextes der jüngsten einwanderungspolitischen Neuerungen kann von einem grundsätzlichen Wandel keine Rede sein.

Das kurze historische Gedächtnis der deutschen Migrationsdebatte erstaunt immer wieder. Dabei schien die Einführung der Green Card einem seit den späten fünfziger Jahren eingeübten Skript zu folgen. Die Wirtschaft verlangt nach Arbeitskräften, und der Staat hilft unbürokratisch aus. Selbstverständlich gehen solche flexiblen Lösungen stets zu Lasten der MigrantInnen, weil die Mischung zwischen unverhohlenen Nützlichkeitserwägungen und Sondergesetzgebung ein kaum entwirrbares rechtliches Chaos erzeugt. So genannte AusländerInnen werden in Deutschland weiter per Verordnungen regiert. Und es ist nur Kosmetik, wenn diese nicht mehr Ausländerpolizeiverordnung, sondern businessmäßig Green Card heißen. Die immer wieder beschworene Transparenz einer umfassenden gesetzlichen Regelung ist politisch nicht gewollt, flexible Lösungen lassen die Machtverhältnisse intakt.

Auch die neuesten Anstrengungen in Richtung Integration erinnern an die Mitte der siebziger Jahre. Selbst die damalige Liste »ausländischer Defizite« ist gleich geblieben. An erster Stelle steht die Sprache, dann folgen die Schlagworte Gettoisierung und Kriminalität. Neu hinzugekommen ist als rassistisch umcodierte Errungenschaft der Frauenbewegung lediglich der Machismo der Einwanderer türkischer Herkunft. Der Problemfokus liegt dabei seit 25 Jahren auf der zweiten Generation.

Die Rede von der Integration ist ein Scharnier, das die bloß moralische Anerkennung der im Land erworbenen Ansprüche von MigrantInnen mit der politischen Verleugnung ihrer Existenz verbindet. MigrantInnen gelten weiter in erster Linie als ein zu lösendes Problem. Tatsächlich hat die Regierung zu keinem Zeitpunkt eine geeignete Infrastruktur zur Verfügung gestellt, um die Realisierung ihrer eigenen Integrationsforderungen zu gewährleisten - Paradebeispiel ist die Schwierigkeit, in einen Sprachkurs zu kommen.

Insofern dient der ganze Integrationsdiskurs vornehmlich der Disziplinierung von Einwanderern. Wie es sich schon an den neuen Anforderungen für Einbürgerungswillige gezeigt hat, könnte der Druck sogar noch wachsen. Bei einer Tagung zu Beginn des Jahres sprach sich der innenpolitische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, vehement gegen die weitere Förderung von Migrantenorganisationen aus, die nach wie vor auf die Heimat orientiert seien. Schließlich verlangte Rita Süssmuth, Vorsitzende der neokorporatistischen Einwanderungskommission, in einem Interview mit der taz, dass es keine »rein ethnisch ausgerichteten Diskotheken und Sportvereine« mehr geben solle. In der BRD sind für Einwanderer nur zwei Aggregatzustände vorgesehen: sichtbare Fremdheit oder Anpassung bis zur Unsichtbarkeit.

Bereits mit der neuen Staatsbürgerschaftsregelung ist das Pendel wieder in Richtung Anpassung ausgeschlagen, wobei Süssmuths Ablehnung »ethnisch ausgerichteter« Diskos die Bemühungen von MigrantInnen um einen Platz in der Gesellschaft geradezu sabotiert. Offenbar wird unter dem Motto Integration die Trennung zwischen Bevölkerungsgruppen ausgerechnet durch solche Forderungen und Maßnahmen erzeugt, die angeblich zu ihrer Verringerung dienen sollen. Stets wird ein neues deutsches Ich-Ideal errichtet, zu dem die Ausländer aufschließen sollen, und das sie am Ende eben nie erreichen können. Dieses Ich-Ideal ist kulturell definiert, denn wirtschaftliche Benachteiligung gilt als natürlich, und politische Anerkennung wird bewusst verweigert. Insofern darf sich die als kulturell begriffene Kluft nicht schließen.

Der immer wieder aufs Neue bestätigte Abstand zwischen »uns« und »ihnen« dient der Erklärung und Legitimation der subalternen Rolle der Anderen in der Gesellschaft. Und er erzeugt ein weitgehend machtloses symbolisches Objekt, das der eigenen Identitätsproduktion als Folie dient. Die spiegelverkehrte Bestätigung der eigenen positiven Eigenschaften durch die negativen Zuschreibungen auf die Anderen ging in der Debatte um Leitkultur so weit, dass ausgerechnet die Christdemokraten eine »Kultur der Toleranz und des Miteinander« reklamierten, die sich aus der Tradition des Judentums speise und die Gleichstellung der Geschlechter beinhalte. Die liberalen Kommentatoren wiederum betonten gegen den Begriff der Leitkultur, dass diese »Kultur der Toleranz« in Deutschland angeblich längst existiere.

Tatsächlich dient die Beschwörung der Toleranz mittlerweile selbst wieder als Mittel der Ausgrenzung. Denn während Jens Jessen in der Zeit das Tragen von Kopftüchern als »öffentliche oder private Grille« bezeichnet, erweisen sich die Kopftücher der jungen, zumeist gebildeten muslimischen Frauen als Politisierung der kulturellen Differenz. Die Frauen entsprechen weder dem klischierten Anspruch an Fremdheit - Bildung, Beruf und Selbstbewusstsein belegen ihre Integration - noch der Forderung nach Anpassung. Nichts hat die Aporien der Integrationsforderung deutlicher auf den Punkt gebracht als die Ablehnung von Fereshta Ludin als Lehrerin in Baden-Württemberg. Doch in dem Moment, in dem Jessen und seinesgleichen bemerken werden, dass es sich bei dieser kulturellen Differenz eben nicht um eine jederzeit ironisierbare Grille handelt, werden sie erneut die mangelnde Zivilisiertheit der MigrantInnen herausstreichen - sie sind eben doch FanatikerInnen, noch nicht bereit für unsere Demokratie.

Unter dem Banner so genannter Toleranz segelte im Jahr 2000 auch ein neuer Aktionismus gegen Rechts und gegen Rassismus. Qualitativ brachte diese taufrische Sensibilität wenig Neues - die Erfahrungen und Stimmen von MigrantInnen spielten praktisch keine Rolle. Und im Mittelpunkt standen keine konkreten Maßnahmen, sondern moralische Appelle und rhetorische Reparaturarbeiten am eigenen Selbstbild. Allerdings enteignete der Staat auf dramatische Weise zivilgesellschaftliche und antirassistische Initiativen ihres Vokabulars: Staatliche VertreterInnen führten ununterbrochen das lange verpönte Wort Rassismus im Mund. Der Kanzler rief die Anständigen zu einem Aufstand auf, und die Behörden organisierten ihre eigenen Demonstrationen.

Wie so oft dient der Einwanderungskomplex als Experimentierfeld für neue Methoden integrationistischer sozialer Mobilisierung, und dabei sind die zukünftigen Wirkungen von Aufständen der Anständigen nicht negativ genug einzuschätzen. Zudem haben schon die zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf die rassistischen Ausschreitungen zu Beginn der neunziger Jahre die faktische Abschaffung des Asylrechts begleitet. Auch diesmal flankieren die Anständigen den nächsten Angriff auf den Asylparagraphen mit ihren sprachlosen Demonstrationen.

In diesem Jahr wird die EU auf neue Weise in den nationalen Einwanderungskomplex eingreifen. Zum einen wird der - völlig falsche und rein instrumentelle - Verweis auf die europäische Harmonisierung dazu führen, dass der Rest des deutschen Asylrechts diesen Sommer nicht überleben wird. Zum anderen wird die Bundesregierung durch EU-Richtlinien gezwungen, Antidiskriminierungsmaßnahmen umzusetzen. Das ist positiv. Leider fehlt in diesem Lande jeder Begriff davon, was unter Rassismus zu verstehen ist. Das macht den Kampf gegen Diskriminierung schwierig. Zudem darf man angesichts der Tatsache, dass damals Innenminister Kanther für die Umsetzung des Europäischen Jahres gegen Rassismus zuständig war, auf die neuen Antidiskriminierungsregelungen gespannt sein.