Alternative Lebensformen

Stadtflucht der Alpenfreunde

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Alle Jahre wieder lässt sich ein Phänomen beobachten: die temporäre Stadtflucht. Dann gehört für wenige Tage Berlin den Berlinern. Und zwar den echten Berlinern, egal, ob sie nun einen türkischen, kroatischen, polnischen oder deutschen Pass haben.

Die Zugereisten aus West- und vor allem aus Süddeutschland, sie sind plötzlich aus dem Straßenbild verschwunden. In U- und S-Bahn schwätzt niemand mehr Schwäbisch, beim Metzger verlangt keiner mehr nach Weißwurst oder Leberkäse und die Verkaufszahlen des Bonner Generalanzeigers brechen ein, als hätte es den Regierungsumzug im vergangenen Jahr nie gegeben. Es weihnachtet.

Und alle fahren heim. Nicht ins Reich, sondern in den Freistaat Bayern, ins Schwabenländle oder dahin, wo sonst sich die Familie samt Tradition und Bratenrezept niedergelassen hat. Weihnachten bei Mami und Papi. Das muss so sein. Weil der Süddeutsche an und für sich wesentlich religiöser ist als in Berlin sonst üblich.

Außerdem liebt der Süddeutsche Schnee. Nicht, dass er dafür eine gute Begründung hätte. Genau genommen hat er noch nicht mal eine schlechte, er kennt es eben einfach so. Punkt. Aber Pech gehabt: Kaum hatte der letzte Bayer die weihnachtliche Reise gen Süden angetreten, schneite die gesamte Flachebene rund um die Hauptstadt ein, dass jeder süddeutsche Alpenfreund neidisch geworden wäre, hätte er es nur miterleben können. Konnte er aber nicht - er war ja heim gefahren.

Also hatten die Berliner nicht nur Berlin, sondern auch den Schnee ganz für sich allein. Und sie können sogar damit umgehen. In den städtischen Parks wurden Skifahrer gesichtet, Weihnachtsmänner wurden mit Schneebällen eingedeckt und die vereisten Straßen und Gehwege getrost ignoriert. Auch die von den Arbeitsämtern zum Schneeschippen verdonnerten Leistungsempfänger zogen es mehrheitlich vor, zu Hause zu bleiben.

Schnee und Eis? Wen stört's? Natürlich gibt es Menschen, denen auch das nicht passt. Eberhard Schönberg zum Beispiel. Es sei nicht mehr möglich, »für eine umfassende Sicherheit der Menschen in der Stadt zu sorgen, geschweige denn für Ordnung«, schimpfte der Berliner Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Ein Notstand? Eine Bedrohung für die nationale Sicherheit? Vielleicht war der ununterbrochene tagelange Schneefall ja auch nur ein Manöver der Russen? »Hilfe, die Russen und ihr Winter kommen«? Für Schönberg ist klar: Die verschneite Hauptstadt braucht ein »zentrales Ordnungsamt«. Als Kristenstab. Ob das reicht? Soll es vielleicht doch lieber ein Präventivschlag gen Osten sein? »Ab 5 Uhr 45 wird zurückgeschippt«?

Aber mal ehrlich: Den meisten echten Berlinern ist es doch schnuppe, ob Weihnachten weiß oder grau oder verhagelt ist oder vielleicht auch ausfällt. Wenn man nicht ohnehin auf die Kanarischen Inseln geflogen ist - wenn schon nach Süden, dann bitte richtig - ist das Programm doch klar: keine Eltern, keine Kinder, keine Weihnachtslieder, sondern einfach nur ein paar gute Actionfilme mit Bruce Willis. Immer wieder - alle Jahre eben.