Schauprozesse in Tunesien

Keimfreie Diktatur

Das tunesische Regime versucht mit Schikanen und Prozessen, die letzten Reste der legalen Opposition mundtot zu machen.

Ein weiteres Mal stehe ich wegen der beiden wichtigsten Verbrechen vor Gericht, die man in diesem Land begehen kann: der Freiheit der Meinungsäußerung sowie der Versammlungsfreiheit.« Mit diesen Worten kommentierte der international renommierte Arzt Moncef Marzouki im Dezember gegenüber der Pariser Zeitung Le Monde die Anklage, die damals gegen ihn verhandelt wurde. Und die ihm mittlerweile zwölf Monate Haft ohne Bewährung eingebracht hat, acht wegen »Zugehörigkeit zu einer nicht anerkannten Vereinigung« und vier wegen »Verbreitung falscher Nachrichten, die geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen«.

Im Prozess hatten die Richter sich strikt geweigert, die Marzouki als »Verbreitung falscher Informationen« zur Last gelegten Inhalte zu präsentieren. Daraufhin zogen die 41 Anwälte des Mediziners - der bereits im Juli 2000 aus seinem Lehramt an der Universität von Sousse entfernt worden war - unter Protest gegen die »Prozessfarce« aus dem Gerichtssaal. Zuvor waren ihre Äußerungen, sobald sie die Verhandlungsführung des Gerichts kritisierten, minutiös protokolliert worden, mit der Drohung, gegen die Verteidiger selbst Strafverfahren wegen »Verächtlichmachung der Justiz« zu eröffnen.

Am 30. Dezember wurde in Tunis das Urteil gegen den Mediziner gefällt, der in seiner Eigenschaft als Sprecher der von den Behörden nicht genehmigten Vereinigung Nationaler Rat der Freiheitsrechte in Tunesien« (CNLT) vor den Richter zitiert worden war. Doch der Prozess gegen den Arzt bildet nur ein Glied in einer Kette von Schikanen, Anklagen und Gerichtsverfahren, mit denen die tunesische Diktatur derzeit die letzten Reste einer offen auftretenden Opposition oder auch nur Kritik mundtot zu machen sucht.

Am 15. Januar soll die Hauptverhandlung gegen die Tunesische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LDTH) eröffnet werden, deren Vorsitz Marzouki vorübergehend innehatte. Die 1977 gegründete Vereinigung wurde bereits am 30. November unter die Aufsicht eines von der Justiz ernannten behördlichen Verwalters gestellt, die Aktivitäten ihrer Leitung wurden in Erwartung des Prozesses unterbunden. Eine Beratungssitzung ihrer führenden Instanzen wurde am 3. Dezember in Bizert von einem enormen Polizeiaufgebot verhindert; dasselbe widerfuhr fünf Tage später in Tunis dem CNLT.

Seitdem sich auf ihrem letzten Kongress Ende Oktober die Verteidiger einer Linie der »Unabhängigkeit« gegenüber der Diktatur des Ex-Militärs und Präsidenten Zinedine Ben Ali mehrheitlich durchgesetzt hatten, befindet sich die Liga im Visier der Mächtigen. Die Liga und der CNLT sind die beiden einzigen aktiven Vereinigungen, die nicht unter direkter oder indirekter Kontrolle des Präsidentenpalastes stehen - neben rund 8 000 »anerkannten« Gruppierungen. Die Initiative Raid - ein tunesischer Ableger der französischen, weltwirtschaftskritischen Initiative Attac - war bereits im vergangenen Jahr unter die Mühlsteine der Repression geraten.

Heterogen zusammengesetzt, zum größeren Teil der illegalen radikalen Linken nahe stehend - neben der auch eine islamistische Strömung repräsentiert ist -, strebt die neue Mehrheit innerhalb der Liga danach, sich nicht vom Ben Ali-Regime gängeln zu lassen. Betont doch die tunesische Diktatur gern und häufig ihre Anstrengungen zugunsten der Menschenrechte, auch wenn nach Angaben internationaler Organisationen 2 300 politische Häftlinge in dem kleinen Land hinter Gittern sitzen und allein zwischen 1991 und 1997 mindestens 20 Personen an den Folgen erlittener Folter starben.

Seit einigen Wochen scheint das von mafios-neureichen Kreisen getragene Regime jeder, selbst der bürgerlich-liberalen Kritik den Garaus machen zu wollen. Im Dezember war der Rechtsanwalt Nejib Hosni wegen »illegaler Berufsausübung« zu 14 Tagen Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Und der frühere Generalsekretär der - jedenfalls an der Spitze lammfrommen und unterwürfigen - Einheitsgewerkschaft UGTT, Ismail Sahbani, soll wegen angeblicher »Misswirtschaft mit Organisationsvermögen« vor Gericht landen.

Neu ist aber das finstere Bild, das die westliche und vor allem die französische Presse von Tunesien malt. Lange Zeit war das Land wegen seiner vielgerühmten »politischen Stabilität« und hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten das Hätschelkind der westlichen Führungsmächte, und vor allem der ehemaligen Kolonialmetropole Frankreich. Doch seit Mitte vergangenen Jahres ist das Klima kühler.

Die gesamte französische Presse ist mittlerweile im Lande verboten und selbst vom Flughafen von Tunis verbannt worden. Französische und US-amerikanische Diplomaten haben Ende Dezember am Prozess gegen Dr. Marzouki teilgenommen. Und das Europaparlament in Strasbourg hat Anfang Dezember seine »Besorgnis« über die Schikanen gegen die tunesische Menschenrechts-Liga geäußert, ebenso die Spezialbeauftragte für Menschenrechte des UN-Generalsekretärs, Mima Jilani. Zur kritischen Haltung gegenüber Tunis beitragen dürfte der Druck von NGOs - etwa Reporter ohne Grenzen - und progressiver Persönlichkeiten wie des Schweizer Autors Jean Ziegler oder des Pariser Historikers Pierre Vidal-Naquet, der eine Petition zugunsten der bedrohten Menschenrechtsliga aufgesetzt hat, beitragen.

Als Erklärung für die starke zwischenstaatliche Abkühlung reicht dieser seit langem vorhandene Faktor jedoch nicht aus. Zu berücksichtigen ist zudem, dass Tunesien als erstes außereuropäisches Mittelmeerland im Juli 1995 ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben hat. Demzufolge sollen bis 2008 bzw. 2010 die Zollbarrieren zwischen der EU und Tunesien fallen. Einerseits ist es dem Land bereits möglich, beispielsweise Textilprodukte ohne Zollschranken nach Europa zu exportieren, was die tunesischen Ausfuhren ankurbelt; im Durchschnitt der letzten Jahre waren fünf Prozent Wirtschaftswachstum zu verzeichnen.

Andererseits werden mittelfristig auch die Barrieren für Einfuhren nach Tunesien fallen müssen, die bisher die einheimische Produktion in manchen Sektoren vor der Weltmarktkonkurrenz und vor der Einfuhr billigerer, da in einer Umgebung mit höherer Produktivität hergestellter westlicher Waren schützen. Damit dürfte die Vernichtung mehrerer Hunderttausend Arbeitsplätze, etwa im Agrarsektor, einhergehen und das Land dürfte noch stärker kapitalkräftigen westlichen Investoren ausgeliefert werden.

In diesem Kontext tobt bereits jetzt ein Kampf um die Startplätze zwischen westlichen Interessen und einheimischer Staatsbürokratie sowie mit dieser eng verbundenen mafiösen Neureichen-Clans. Insofern kann es den Interessen der reichen Staaten nur zuträglich sein, wenn man die repressiven Regimes, ohne sie von sozialen Bewegungen bedroht sehen zu wollen, unter Druck setzen und diplomatisch in die Zange nehmen kann. Wofür die Menschenrechte eine hervorragende Rechtfertigung hergeben.