Tiananmen-Papiere der KP Chinas

Punktsieg für die Radikalreformer

Die jüngst veröffentlichten Tiananmen Papers dienen als Waffe im Machtkampf zwischen den verschiedenen Flügeln der KP Chinas.

Die Reaktion der chinesischen Regierung war eindeutig. »Jeder Versuch, die Sache erneut hochzuspielen und China mit den verabscheuungswürdigen Mitteln der Fabrikation von Material und Verdrehung von Tatsachen zu destabilisieren, wird vergeblich sein«, sagte Zhu Bangzao, ein Sprecher des Außenministeriums, am Dienstag vergangener Woche. Es ging um die Veröffentlichung von Auszügen der so genannten Tiananmen Papers, einer Sammlung von mindestens 10 000 Seiten bislang geheimer, angeblich offizieller Dokumente aus der Zeit der Entstehung und Niederschlagung der Bewegung von 1989. Brisant sind die Papiere, unter denen sich auch Sitzungsprotokolle des Politbüros befinden sollen, vor allem wegen ihrer Bedeutung für den zu erwartenden Machtkampf in der KP anlässlich des Nationalen Volkskongresses im Frühjar 2002.

Auszüge aus den Dokumenten haben die beiden US-amerikanischen Sinologen Andrew J. Nathan und Perry Link kürzlich in dem Buch »The Tiananmen Papers« herausgegeben, auch eine deutsche Übersetzung erscheint in diesem Monat. Nathan erklärte sich in der US-Zeitschrift Foreign Affairs von der Authentizität der Papiere überzeugt, die vermutlich von einem zum Reformflügel der KP gehörenden Insider unter dem Pseudonym Zhang Liang gesammelt und aus China herausgeschmuggelt wurden; ein »absolutes Urteil« sei angesichts des verschlossenen Charakters des chinesischen Regimes jedoch »nicht möglich«. In Foreign Affairs, in Le Monde und im Spiegel kann man Auszüge aus den Dokumenten lesen. Nathan meint, die Papiere würden auch in China »bereits breit diskutiert«.

Der Einsatz scheint hoch zu sein. Bao Tong, ein früheres Mitglied des ZK und der höchstrangige Bürokrat, der nach der Niederschlagung der Bewegung inhaftiert wurde, erklärte: »Nur hochrangige Führer haben Zugang zu dieser Art Information.«

Auch elf Jahre nach der Niederschlagung der Bewegung von 1989 steht eine abschließende Bewertung in China immer noch aus. In den Ereignissen von 1989 kulminieren die Probleme der ersten zehn Jahre der Ende 1978 begonnenen Reform- und Öffnungspolitik mit Deng Xiaoping als ihrem maßgeblichen Propagandisten. Zur Durchsetzung seiner Politik einer behutsamen ökonomischen Reform, der begrenzten Öffnung nach Westen und der Zulassung kapitalistischer Strukturen auf unterster gesellschaftlicher Ebene versuchte Deng, die diametral entgegengesetzten Interessen von Radikalreformern und Reformgegnern in der Partei auszubalancieren.

Dennoch prägten Fraktionskämpfe innerhalb der Partei die weitere Entwicklung. Gegen den Flügel der KPCh, der die Reformen vom Land auf die Städte ausweitete, setzten vor allem die Reformgegner 1983 die Kampagne gegen »geistige Verschmutzung« in Gang. Die großen Studentendemonstrationen 1986/87 waren Ausdruck einer stetig wachsenden Unzufriedenheit von Studenten und Lehrpersonal mit ihrer ökonomischen Situation. Auf sie folgte die Kampagne gegen »bürgerliche Liberalisierung«, die auch die Unterstützung der »Zentristen« unter Deng Xiaoping fand. Sie betrieb eine Schwächung der Reformkräfte inner- und außerhalb der Partei.

Sinkende Wachstumsraten und Hyperinflation waren Ende der achtziger Jahre Symptome einer sich verschärfenden ökonomischen Krise, die auch die bisherigen Gewinner der Reformen, die Bauern und Kleinunternehmer, traf. Viele Akademiker konnten sich 1989 nur mit Zusatzjobs über Wasser halten, Studierende klagten über schlechte Studienbedingungen und miserable Jobaussichten. Diese Unzufriedenheit machte sich Luft in den Demonstrationen im April 1989 anlässlich des Todes Hu Yaobangs, des im Zuge der Ereignisse von 1987 entmachteten Parteichefs. Die Bewegung entfaltete schon bald ihre eigene Dynamik. Gingen die überwiegend studentischen Demonstranten anfangs vor allem für bessere Studienbedingungen und gegen Korruption und Bereicherung der Kader auf die Straße, ertönten schon bald Rufe nach Demokratie und politischer Freiheit.

Auch wenn eine bewusste Einflussnahme des Westens oder der Radikalreformer in der Partei auf die Bewegung nicht nachweisbar sind, kam ihnen dieser Wandel jedoch äußerst gelegen. Schon bald wurden die Demonstranten auch zum Spielball der Fraktionskämpfe innerhalb der KP. Der Reformflügel unter Zhao Ziyang suchte die Bewegung zu nutzen, um die ökonomischen und politischen Reformen zu forcieren und seine innerparteilichen Widersacher vor der Bevölkerung in Misskredit zu bringen. Die westlichen Medien berichteten täglich vom Platz des Himmlischen Friedens und verschafften den Demonstranten eine unverhoffte Bühne. Aus den Studenten wurden - zunächst in den westlichen Medien, später auch real - politische Schwergewichte, welche die ihnen plötzlich zuteil werdende Aufmerksamkeit auskosteten und für ihre Ziele ausnutzten.

Viele Bürger Pekings, auch Arbeiter aus einigen der großen Stahlkombinate und anderen Großbetrieben, unterstützten die Studenten. Dies sowie die aufkommenden Forderungen nach umfassenden demokratischen Reformen und schließlich sogar nach der Entmachtung der KP bestärkte die so genannten Hardliner in der KP-Führung in ihrer Entscheidung, entschlossen gegen die Bewegung vorzugehen und sich gleichzeitig ihrer innerparteilichen Widersacher zu entledigen. Zhao Ziyang musste als Parteichef zurücktreten und steht seitdem unter Hausarrest.

Als der Platz des Himmlischen Friedens in der Nacht zum 4. Juni 1989 geräumt wurde, befanden sich nur noch wenige von denen auf dem Platz, die die Bewegung ins Rollen gebracht hatten. Die Frage, ob bei der Räumung des Platzes Menschen ums Leben kamen, ist noch ungeklärt. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Räumung des Platzes letztlich friedlich verlief, der Vorstoß der 27. Armee ins Zentrum von Peking jedoch mehrere Hundert Menschenleben forderte. Nie werde die Volksarmee auf die Bevölkerung schießen, dachten die Einwohner Pekings. Der Schock, dass sie es doch tat, wirkte lange nach. Er kostete die KPCh ihre gesellschaftliche Reputation, die sie erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre dank wirtschaftlicher Erfolge und insbesondere durch personelle Umstellungen an der Parteispitze teilweise zurückgewonnen hat.

An diesem Punkt erhalten auch die Tiananmen Papers ihre Bedeutung. Über Ausmaß und Charakter der Protestbewegung bringen sie kaum neue Erkenntnisse. Die Geheimpapiere enthüllen aber die Machtkämpfe in der KP-Führung und vor allem ihre Protagonisten. Zwar galt es auch schon vor der Veröffentlichung der Papiere als gesichert, dass der damalige Ministerpräsident und heutige Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, Li Peng, die treibende Kraft hinter dem Einsatz der Armee war. Über Deng Xiaopings Haltung kursierte jedoch im Frühjahr 1989 die Auffassung, er hätte erst nach langem Zögern die Räumung des Platzes mit allen Mitteln befohlen, weil er seinen Reformkurs gefährdet sah. Nun erscheint Deng in den Akten als gnadenloser Hardliner, der ebenso wie Li Peng mit militärischen Maßnahmen ein Zeichen setzen wollte, um ähnliche Geschehnisse in der Zukunft zu verhindern. Auch auf Jiang Zemin fällt ein Schatten, da er 1989 gerade von Deng als Nachfolger Zhao Ziyangs auf dem Posten des Parteichefs durchgesetzt worden war.

Im Frühjahr 2002 werden voraussichtlich Staats- und Parteichef Jiang Zemin und Li Peng, heute Parlamentspräsident, ihre Ämter zur Verfügung stellen. Jiang gilt als gemäßigter Reformer, Li Peng hingegen als Hauptprotagonist des Flügels, der, soweit noch möglich, das Tempo der Reformen verringern möchte, und vor allem gegen die weitgehende Privatisierung der Staatsindustrie eintritt. Beide Fraktionen sind bestrebt, ihre Kandidaten bei der Neubesetzung der Ämter in Position zu bringen.

Lachende Dritte könnten nun die Radikalreformer um Ministerpräsident Zhu Rongji sein, die sich für eine weitgehende Privatisierung der Staatsindustrie einsetzen und vor allem eine politische Liberalisierung anstreben. Die Veröffentlichung der Akten bedeutet einen wichtigen Punktsieg. Mit der Betonung der positiven Rolle Zhao Ziyangs, der als graue Eminenz im Hintergrund weiterhin die Fäden zieht, stellen sich die Radikalreformer nachträglich hinter die Bewegung von 1989 und sagen sich indirekt von dem Teil der Partei los, der für den brutalen Einsatz der Armee gegen die Bevölkerung verantwortlich ist. Sollte dieser Flügel im kommenden Jahr den Machtkampf für sich entscheiden, könnte der Grundstein für eine innerchinesische Neubewertung der Ereignisse von 1989 gelegt werden.