Vom Wechsel der Töne

Paul Spiegel ist es in seinem ersten Amtsjahr als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland gelungen, die Kritik am Antisemitismus der deutschen Eliten in den Mediendiskurs einzuspeisen.

Als Paul Spiegel am 9. Januar 2000 das Amt des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland antrat, beneidete ihn wohl kaum jemand um diesen Posten. Verbandsinterne Aufgaben wie die Integration der aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugewanderten Juden und die Finanznöte vieler jüdischer Gemeinden hätten allein schon ausgereicht, das Amt zu einer aufreibenden Tätigkeit zu machen.

Als zentrale politische Belastung war der wieder anwachsende Antisemitismus im neuen Deutschland erkennbar, und tatsächlich fielen in Spiegels erstes Amtsjahr neben unzähligen Schändungen jüdischer Friedhöfe und weiteren Übergriffen zwei Brandanschläge auf die Synagogen in Erfurt und Düsseldorf. Und persönlich dürfte es gleichermaßen als große Ehre wie auch einschüchternd gewirkt haben, die Nachfolge von Ignatz Bubis anzutreten.

Nach einem Jahr im Amt ist deutlich geworden, dass Spiegel in einer dramatisch verschlechterten Situation Bubis' politische Linie erfolgreich fortsetzt. Die Interviews der letzten Wochen nutzte Spiegel, um ein Tabuthema in den Mediendiskurs einzuspeisen: den Antisemitismus in den deutschen Eliten. So wies er beispielsweise im Dezember im Bonner General-Anzeiger zu Recht darauf hin, der Antisemitismus grassiere »mittlerweile in elitären Zirkeln. Man wirft mir in der feinen Gesellschaft, nicht am Stammtisch, vor, dass ich Antisemitismus erzeuge, dass die Juden Deutschland wieder aussaugten, weil sie das Mahnmal forderten oder jetzt die Entschädigungszahlungen«.

Mit gutem Grund wehrt sich Spiegel gegen die Vorstellung, er bzw. die Juden erzeugten Antisemitismus. Dass das eine völlige Verdrehung ist, müsste sich eigentlich bis in beliebige VHS-Kurse zum Thema herumgesprochen haben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Auch Wissenschaftler in einflussreichen Positionen vertreten solchen Unsinn. Das gilt insbesondere für Experten, die als konzeptive Ideologen des Verfassungsschutzes tätig sind. Hier ragt das universitäre Extremismus-Duo Eckhard Jesse und Uwe Backes hervor.

Eckhart Jesse, Professor an der Universität Chemnitz, schoss sich unter dem Titel »Philosemitismus, Antisemitismus und Anti-Antisemitismus« auf den früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, ein. Jesse ärgerte sich über die »schrillen Worte« Galinskis und prognostizierte: »Auf Dauer dürfte Judenfeindlichkeit nicht zuletzt gerade wegen mancher Verhaltensweisen von Repräsentanten des Judentums an Bedeutung gewinnen.« Entsprechend verlangt Jesse gewieft in Form einer Frage von den Opfern des Nazismus »Verzeihen«.

Die Erklärung des israelischen Staatspräsidenten Chaim Herzog an der Gedenkstätte Bergen-Belsen im April 1987, dass er kein Verzeihen und Vergessen mitgebracht habe, da nur die Toten das Recht hätten zu verzeihen und es den Lebenden nicht erlaubt wäre zu vergessen, kommentierte Jesse so: »Vergessen darf in der Tat nicht Platz greifen, aber auch kein ðVerzeihenÐ? Wird damit eine Verständigung nicht erschwert?« Die philosophischen Reflexionen über die Unmöglichkeit des Verzeihens von Vladimir Jankélévitch u.a., auf deren Linie die Begründung Chaim Herzogs liegt, sind wohl zuviel für einen deutschen Politologen. Der sieht ein Verständigungshindernis auf Seiten der Juden.

Jesses Aufsatz erschien 1990 in dem von ihm gemeinsam mit Uwe Backes und Rainer Zitelmann herausgegebenen Sammelband »Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus«, der zum Standardwerk des gemäßigten Geschichtsrevisionismus in Deutschland wurde. Diese Sorte Geschichtsrevisionismus, die Auschwitz komparativ trivialisiert, hat ihren institutionellen Stützpunkt längst nicht nur am Dresdener Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, in dessen Leitung Uwe Backes tätig war.

Im Februar 2000 gipfelte Dagmar Barnouws Eröffnungsvortrag bei der Tagung »Das Jahrhundert verstehen. Hannah Arendt - Theodor W. Adorno« des Oldenburger Hannah-Arendt-Zentrums in der Verkündigung: »Geschichte ist Revisionionismus«. Was David Irving, der gleichzeitig in London prozessierte, wohl auch so sieht. Die Tagungsveranstalter wiesen Kritik an diesem revisionistischen Vorstoß zur »Normalisierung« empört zurück, der bloße Hinweis auf antisemitische Anschläge wurde vom Podium als Wahnvorstellung abgetan.

Im Wegdekretieren des Gegenwartsantisemitismus steht die Wirtschaftselite der Wissenschaftselite nicht nach. Schon Ende Dezember widersprach Manfred Gentz, Finanzchef von DaimlerChrysler, Spiegels Diagnose vom Antisemitismus in der Wirtschaftselite. Via dpa verkündete Gentz, es gebe in den Chefetagen keinen Antisemitismus. »Bei meinen vielen Gesprächen bin ich auf keinen handfesten Antisemitismus gestoßen«, meinte Gentz. Er ließ aber offen, was er unter »handfestem Antisemitismus« versteht und ob es nicht auch andere Artikulationen von Antisemitismus gebe.

Nun hatte Spiegel gewiss nicht behauptet, die deutschen Manager legten selber Hand an, wohl aber gemeint, dass sie sich in ihrem Alltagsdiskurs sehr wohl in antisemitische Denkmuster verstrickt zeigen. Doch Gentz, auch Verhandlungsführer der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, meinte: »Im Topmanagement herrscht kein Antisemitismus, sondern eher das Gegenteil.« Auch hier blieb offen, was denn »das Gegenteil« sei. Vielleicht jener Philosemitismus, der leicht als die demokratisch-weltoffene besondere Behandlung von Juden erkennbar ist, um nicht wie Richard Chaim Schneider in diesem Zusammenhang von »Sonderbehandlung« zu sprechen?

Ob Gentz für die zuverlässige teilnehmende Beobachtung zum Thema Antisemitismus in deutschen Führungsetagen geeignet ist, darf bezweifelt werden. Oder hält er sich für besonders qualifiziert, weil zu seinen Mitarbeitern Lothar W. Ulsamer zählt? Dieser erregte Ende der achtziger Jahre einiges Aufsehen, als die Bundeszentrale für politische Bildung seine Dissertation »Zeitgenössische deutsche Schriftsteller als Wegbereiter für Anarchismus und Gewalt« auf Kosten der Steuerzahler an Mittler in der Politischen Bildung verteilen wollte.

Wie die Süddeutsche Zeitung in Erinnerung rief, bezeichnete Hildegard Hamm-Brücher (FDP) das Werk damals als »reinen Rechtsradikalismus«. Sollte man nicht umgekehrt davon ausgehen, dass die deutsche Wirtschaft ihr Versagen gegenüber ihrer historischen Verantwortung gerade darin offenbart, dass ausgerechnet mit Ulsamer jemand zum Vorstand des Zukunftsfonds der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft berufen werden soll, der in den neunziger Jahren mit Artikeln in den rechtsextremen Blättern Zeitenwende - Deutsche Bausteine (hrsg. vom Nationaleuropäischen Jugendwerk) und Junge Freiheit vertreten war?

Dass zentrale Ideologeme des modernen Antisemitismus sehr wohl bei den Wirtschaftseliten Verbreitung finden, zeigt sich zum Beispiel am Börseninfobrief Prior Börse. Das Blatt ist nach seinem Chefredakteur Egbert Prior benannt. Der ehemalige Journalist beim Wirtschaftsmagazin Capital ist mit Aktien und seinen Auftritten bei 3Sat reich geworden, seine Anhänger feiern ihn als Börsenguru. Ermittlungen gegen Prior wegen Insidergeschäften wurden eingestellt, weil man ihm nicht nachweisen konnte, dass er Aktienkäufe mit der Absicht tätigte, die Papiere kurz darauf per Empfehlung auf 3Sat in die Höhe zu treiben.

Pünktlich zum 13. September 2000 - an diesem Tag wollte Yassir Arafat einen unabhängigen palästinensischen Staat ausrufen - wurden in Prior Börse mit fadenscheinigen Belegen sämtliche am Neuen Markt notierten israelischen Firmen krimineller Machenschaften bezichtigt. Damit wurde der ältere Wahn von der jüdischen Konspiration auf den Mossad übertragen. Vage »Indizien« führten zu logisch unzulässigen Verallgemeinerungen, und schließlich projizierte Prior Börse die Vorstellung von den raffgierigen Kapitalisten auf »die israelischen Firmen«. Sie hätten es »auf das Kassemachen« abgesehen, und das soll sie - ausgerechnet an der Börse - als etwas Besonderes kennzeichnen.

Zudem präsentierte Prior Börse auch ein Stereotyp des »sekundären Antisemitismus« (Adorno), jener neuen deutschen Ideologiekonstruktion nach und wegen Auschwitz. Gemäß der Kernvorstellung dieses Antisemitismus nach dem Holocaust, »die Juden« nutzen die Erinnerung an Auschwitz aus, und zwar insbesondere gegen Deutschland und die Deutschen, wurde in Prior Börse unterstellt, israelische Unternehmen gingen ihren kriminellen Machenschaften wie Prospektbetrug am deutschen Neuen Markt um so unbefangener nach, als es »politisch kaum vorstellbar« sei, dass »sich ein israelisches Unternehmen (...) ausgerechnet vor einem deutschen Gericht verantworten sollte«.

Kaum jemand empörte sich öffentlich vernehmbar über diesen antisemitischen Ausfall. Auch in den anderen hier angesprochenen Fällen wird Kritik allenfalls zaghaft artikuliert. Und zumeist von außen - im inner circle will keiner als »Nestbeschmutzer« verschrien werden. So mag Antisemitismus zwar noch nicht zum guten Ton gehören, aber antisemitische Äußerungen werden auch nicht als Misston begriffen.