Milde Urteile gegen Anarchisten

Plädoyer für den Umsturz

Zwei griechische Gerichte haben überraschend anarchistische Motive als strafmildernde Umstände anerkannt - zum großen Ärger der Regierung.

Eine Woche dauerte der Berufungsprozess im Fall Nikos Masiotis, und eigentlich sprach alles gegen ihn. Der Anarchist bekannte sich nicht nur offensiv zu einem Sprengstoffanschlag gegen das griechische Industrie- und Entwicklungsministerium in Athen am sechsten Dezember 1997. Schon die Verhandlungseröffnung am achten Januar dieses Jahres war von heftigen Auseinandersetzungen geprägt. Als er Masiotis während seiner Verteidigungsrede unterbrach, sprang dieser über die Anklagebank, griff sich ein Mikrofon, bezeichnete den Richter als »Arschloch« und feuerte aus Protest gegen den »inszenierten Charakter des Prozesses« seine eigenen Anwälte.

Tags darauf ordnete der Richter an, dass Masiotis nur noch gefesselt der Verhandlung beiwohnen dürfe, und ließ ihn kurz darauf aus dem Saal befördern, nachdem der Angeklagte sich lautstark über die »Scheindemokratie« beschwert hatte. Am 15. Januar stand das Urteil fest. Die Strafe des in erster Instanz zu 15 Jahren Haft verurteilten Masiotis wurde überraschenderweise auf fünfeinhalb Jahre herabgesetzt. Und da er bereits zwei Drittel dieser Zeit abgesessen hat, befindet er sich seit Montag letzter Woche wieder auf freiem Fuß.

Den Hintergrund des Sprengstoffanschlags bildeten die vom griechischen Industrie- und Entwicklungsministerium genehmigten Pläne des kanadischen Goldkonzerns TVX Gold und seines griechischen Tochterunternehmens TVX Hellas, die viel versprechenden Goldminen am Golf von Strimonikos im Norden Griechenlands auszubeuten. Bei der Goldförderung entstehen toxische Abwässer, die Böden, Luft und Wasser der näheren Umgebung nachhaltig verseuchen. Erst im vergangenen Jahr waren nach einem Dammbruch im Goldbergwerk Aurul im rumänischen Baia Mare große Mengen der zyanidhaltigen Brühe ausgetreten und hatten im gesamten Donaudelta nachhaltige Schäden hinterlassen.

Die Protestnoten der am Golf von Strimonikis lebenden Bevölkerung gegen das Bauvorhaben von TVX wurden vom zuständigen Ministerium sowie von der sozialdemokratischen Pasok-Regierung hartnäckig ignoriert. Im November 1997 begannen Bewohner der umliegenden Orte Olympiada und Varvara, unterstützt von anarchistischen Gruppen aus Athen, militant gegen die Bauarbeiten des Goldkonzerns vorzugehen. Nachdem ein Polizeiwagen in Brand gesetzt und eine Fördermaschine zerstört worden war, verstärkte die Regierung rund um die geplante Goldförderanlage die Polizeipräsenz. Kurz darauf missglückte Masiotis' Sprengstoffanschlag in Athen.

Vor rund einem Monat hatte ein Berufungsprozess gegen einen Anarchisten einen ähnlich überraschenden Ausgang genommen. Am 15. Dezember wurde Kostas Mitropetros freigesprochen. Er war im Frühsommer 1998 unter dem Vorwurf des Sprengstoffbesitzes verhaftet und ein Jahr später zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Den politischen Kontext des Falls bildeten die Proteste arbeitsloser Lehrer gegen die staatlichen Rationalisierungsmaßnahmen im Bildungsbereich.

Auch dieser Bewegung schloss sich Athens linksradikale Szene an. Mitte Juni kam es in über 15 griechischen Städten zu Straßenschlachten mit der Polizei. Am 18. Juni 1998 setzten Anarchisten mehrere Polizeifahrzeuge und den Eingang der Athener Pasok-Zentrale in Brand. Noch am gleichen Tag wurde Mitropetros festgenommen.

Die überraschend milden Urteile in den beiden Anarchisten-Prozessen stellen in der griechischen Rechtsprechung Präzendenzfälle dar. Im Fall Masiotis entschieden die Geschworenen - griechische Strafgerichte sind Schwurgerichte, ähnlich denen in den USA - gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft und des vorsitzenden Richters, die für die Bestätigung des Urteils aus erster Instanz plädierten. In der Urteilsbegründung der Geschworenen zum Berufungsverfahren heißt es, dass Masiotis wegen der explizit politischen Motivation seiner Tat nicht aus »niederen Beweggründen« gehandelt habe.

Auch im zweiten Prozess gegen Mitropetrus erkannte die ungewöhnlich aufgeschlossene Strafrichterin die »hohe politische Motivation« des Angeklagten als strafmildernden Umstand an. So schockierte sie alle Anwesenden mit der Erklärung, seine Verteidigungsrede während des Verfahrens in erster Instanz sei ein überaus aufschlussreicher Vortrag über den häufig missverstandenen Begriff der Anarchie gewesen.

Ähnlich wie Masiotis rückte auch Mitropetros während der Befragung vor Gericht nicht von seiner politischen Haltung ab: Auf die Frage, ob er den bewaffneten Kampf billige, antwortete er: »Im Endeffekt schon. Wir sprechen nicht von reformistischen Veränderungen des Systems, sondern von seinem Umsturz.«

Dass Organe der Justiz so viel Verständnis für den politischen Kampf zeigten, mochte die griechische Regierung allerdings nicht dulden. Premier Konstantin Simitis nahm den Ausgang der Prozesse gegen Masiotis und Mitropetros zum Anlass, sich für eine beschleunigte Abschaffung der Schwurgerichte auszusprechen.