Staatliche Erinnerung an Auschwitz

Gedankenspiele zum Gedenken

Selbst wenn sie gar nicht marschieren, gelingt es den Neonazis, das Gedenken an die ermordeten Juden Europas zu überschatten. Ihre Integration ist einigen Politikern wichtiger als die Vergangenheit.

Ausgerechnet Wolfgang Thierse! Ausgerechnet dieser farblose Ostberliner Sozialdemokrat, der als Bundestagspräsident eigentlich nur ein wenig herumrepräsentieren muss. Ausgerechnet einer, der sich stets demonstrativ engagiert, wenn es um die Zivilgesellschaft geht - als Schirmherr der Antonio-Amadeu-Stiftung genauso wie als Beiratsmitglied des Vereins Berliner Mauer Gedenkstätte und Dokumentationszentrum. Ausgerechnet Thierse sagt ganz offen, was er wirklich denkt.

Wieso, fragte er sich, sollte jemand, der heute Ausländer verprügelt, eigentlich später nicht mal Minister werden. Ist das schon eine mündliche Stellenausschreibung? Hat er gar schon jemanden für die Ministerbank ausgewählt? Einen vorbestraften Nazi-Schläger aus Brandenburg? Ein Mitglied der NPD? Das verrät Thierse nicht. Denn er weiß genau, was er sich leisten darf und was nicht.

Mit Thierses Überlegung aber können alle leben. Fast alle. Einzig Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, kritisiert das laute Denken öffentlich. Ein Bundestagspräsident, der die Neonazi-Szene in 20 Jahren auf der Kabinettsbank sehen möchte, sei kein geeigneter Redner für den 27. Januar - den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

Kein Wunder, er ist einiges gewohnt von deutschen Politikern. Und Gewöhnung härtet ab, so bleibt Nachamas Stimme in der deutschen Öffentlichkeit vereinzelt. Den meisten macht der Gedanke an die Nazi-Minister nichts aus. Erst recht nicht, als Thierse nach einer Schamfrist verkündet: »Ich wünsche mir keine heutigen Neonazis in zehn Jahren auf einem Ministersessel.« Das sagt er zu gegebenem Anlass - der Vorstellung eines Konzerts gegen rechte Gewalt. Damit ist das Thema wieder vom Tisch, mit Nachama hat man ja auch ganz demokratisch eine Gegenstimme angehört.

Thierses Gedankenspiel ist vor allem als Beitrag zum 27. Januar zu werten. Der Tag des Gedenkens an die Ermordeten, der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Armee der Sowjetunion, ist für ihn offenbar ein Tag, an dem es um die deutsche Gegenwart und seine Vorstellung von deutscher Zukunft geht. Er spricht ein Grußwort auf einer Gedenkveranstaltung am Bauplatz des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Eigentlich wollten hier erneut die Nazis aufmarschieren, wie im Vorjahr.

Ihre Strategie scheint aufzugehen, auch wenn sich die marschierenden Kahlköpfe doch noch nach Hamburg umorientierten. Den Tag zum Gedenken an die vielen Toten zu nutzen, geht gar nicht mehr ohne stets mit den Nazis der Gegenwart konfrontiert zu sein. Und das gilt selbst, wenn sie ihre Anmeldung für ihre demonstrative Anwesenheit am Denkmals-Bauplatz längst zurückgezogen haben. Der Gedanke an sie ist dennoch da - und für Leute wie Thierse ist das immer auch der Gedanke an ihre mögliche Integration.

Wer weiß, ob der Bundestagspräsident sich überhaupt an der Gedenkveranstaltung beteiligt hätte, wenn die Nazis sich nicht angekündigt hätten. Geht es ihm nicht letzten Endes nur darum, sein Gesicht zu zeigen gegen Rechts, um zu beweisen, wie sehr er sich engagiert - damit am Ende niemand vermutet, er sei nur gekommen, um sich schon mal die rhetorisch Gewandtesten unter den potenziellen Ministeranwärtern herauszupicken? Beim Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas ist dieses Problem längst bekannt, Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) machte im vergangenen Jahr durch demonstrative Abwesenheit deutlich, welchen Stellenwert das Gedenken an die Opfer für ihn einnimmt.

Gegen so viel offensichtliche Ignoranz gibt es allerdings kaum ein Mittel. Nicht ohne Grund wollte der Förderkreis das Mahnmal genau dort sehen, wo es jetzt entstehen wird. In der Mitte Berlins, unübersehbar für alle, die vom Reichstag oder Brandenburger Tor zum Potsdamer Platz pilgern. Dieser Teil der deutschen Geschichte muss unausblendbar sein, unvergessen. Stätten des Gedenkens gibt es bereits einige -

allein an 27 verschiedenen Orten wird in Berlin dieses Jahr der ermordeten Juden gedacht. Während das Gedenken dezentral ist, muss die Erinnerung zentral sein. Denn nur so kann es den deutschen Ministern, Bundestagspräsidenten, Berliner Bürgermeistern und den Deutschen von heute - und auch jenen in 20 Jahren - unangenehm sein.

Nicht verwunderlich also, dass die Nazis das Denkmal in der Mitte Berlins jetzt schon mehrfach als Aufmarschpunkt ausgewählt haben. Die Intention dieser Stätte muss sie zwangsläufig stören - genauso wie dies offenbar auch bei Diepgen der Fall ist. Zudem möchten sie lieber, dass in der Öffentlichkeit über sie und ihre wehenden Fahnen gesprochen wird als über die deutsche Geschichte. Leute wie Thierse tun das nur allzu gern: Zu überlegen, wie man die leicht verirrten und geschorenen Schäfchen wieder in die Herde integrieren kann, ist ihm angenehmer als sich die deutsche Geschichte vor Augen zu führen. Ähnlich auch die Freunde von Law und Order, die das Aufmarschieren am Denkmal nur zu gerne nutzen, um ein generel-les Demonstrationsverbot für so genannte sensible Orte nutzen. Dazu zählen sie natürlich auch das Brandenburger Tor und Teile des neuen Regierungsviertels.

Es ist wie eine Rache an den Opfern: Weil die Deutschen wegen des geplanten Denkmals nicht mehr um die Erinnerung herumkommen, versuchen sie ein würdevolles Gedenken zu erschweren. Kaum zum offiziellen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus ernannt, geht es nur noch um Deutschland - und darum, wie gut es heutzutage eigentlich ist. Das Gedankenspiel des Bundestagspräsidenten ist nur ein kleiner Teil davon.

Wenigstens die Shoah Foundation bemüht sich um eine späte reeducation. Ab Februar wird in vielen Tages- und Wochenzeitungen eine Anzeigenkampagne starten - mit Erinnerungen und Fotos von Überlebenden. Schulen wird gleichzeitig eine Multimedia-CD mit Zeugnissen von Überlebenden zur Verfügung gestellt. Die Schirmherrschaft für diese Kampagne liegt übrigens nicht bei Thierse. Ausgerechnet nicht bei Thierse. Sondern bei Hollywood-Regisseur Steven Spielberg. Zweifellos die bessere Wahl.