Die Welt nach Dolly

Während die Parteien noch über die Klonierung embryonaler Zellen streiten, experimentiert die Scientific Community mit adulten Stammzellen und geklonten Tieren.

Die große Wende hatte sich schon vor Wochen angekündigt. Er sei gegen »ideologische Scheuklappen und grundsätzliche Verbote« in der Genforschung, hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits im vergangenen Dezember erklärt. Seiner Meinung nach sollen Gentests an In-vitro-Embryonen, die so genannte Präimplantationsdiagnostik, ohne neue gesetzliche Regelung zugelassen werden.

Die Umsetzung hat nicht lange auf sich warten lassen. Getreu den Worten ihres Kanzlers sprach sich die neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) Ende vergangener Woche für eine Umkehr in der Biomedizin aus. Im Gegensatz zu ihrer Amtsvorgängerin Andrea Fischer von den Grünen lehnt sie Gentests nicht mehr kategorisch ab.

Unterstützung für den Richtungswechsel ihrer Gesundheitsministerin erhalten die Sozialdemokraten dabei von den Liberalen. Deutschland solle »umfassend von den neuen Möglichkeiten der Gentechnik Gebrauch machen«, fordert etwa die FDP-Forschungspolitikerin Ulrike Flach in der Berliner Zeitung. »Entsetzt« zeigte sich hingegen die PDS, »bestürzt« die Evangelische Kirche. Mahnende Worte kommen auch von den Grünen.

Der Streit um die Embryonenforschung für die Stammzellenproduktion ist voll entbrannt. Der Konflikt zeigt den Dissens darüber, was WissenschaftlerInnen im Namen zukünftiger Therapie- und Wohlstandsversprechen erlaubt sein soll. Da es keine Zeit gibt, den viel zitierten gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, reagieren die sozialdemokratischen Modernisierer mit dem uneingeschränkten Willen zur Bio-Gesellschaft, die sie mit einer formelhaften Einladung zur Gen-Debatte schmackhaft zu machen versuchen.

Doch völlig unbeeindruckt von den politischen Auseinandersetzungen und den tiefsinnigen Betrachtungen in den Feuilletons wird in den Laboratorien schon längst geklont und die Stammzellenproduktion mit unterschiedlichen Methoden und Materialien auf den Weg gebracht. Die Gelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Forschungsministeriums fließen kontinuierlich in solche Projekte. Und die Hoffnungen auf Therapiechancen kursieren schon im alltäglichen System der Krankenbehandlung, in den Krankenhäusern und bei den PatientInnen. Die private Nachfrage bekommt bereits Konturen. Schröders PR-Offensive, die sich als politische Entscheidung für die Zukunft präsentiert, bildet diese Gegenwart nicht ab. Sie verschweigt sie.

Vordergründig dreht sich der Streit um das so genannte therapeutische Klonen, das in Großbritannien seit Ende Januar erlaubt ist. Diese spezielle Methode ist keine singuläre Technik, sondern Teil des neuen Forschungszweiges der Gewinnung und Manipulation von Stammzellen unterschiedlicher Herkunft. Die Technik, embryonale Zellen mit entkernten Eizellen zu fusionieren, wird derzeit entweder zum ethischen Supergau oder zur notwendigen Option für die Zukunft stilisiert. Die biomedizinische Operation, die 1997 zum Schaf Dolly führte, braucht Anwendungsoptionen. Und die liegen in der Stammzellenproduktion und im Klonen von Tieren für die Pharmaproduktion. Von Routine, geschweige denn von einem so genannten therapeutischem Einsatz, kann keine Rede sein. Nach wie vor bewegt sich alles im Bereich von trial and error.

So experimentiert der Biowissenschaftler Oliver Brüstel am Bonner Institut für Neuropathologie mit embryonalen Stammzellen vom Tier. Sein Forschungsteam will einen spezifischen Nervenzelltyp herstellen und wird dafür unter anderem von der DFG finanziert. In fünf bis zehn Jahren, prognostiziert Brüstel, können Nervenzellen bei PatientInnen mit gestörten Hirnfunktionen - durch Parkinson, Multipler Sklerose oder den Folgen eines Schlaganfalls - wieder hergestellt werden. Die schlichte Tatsache, dass einige Experimente am Tier gelungen sind, und die klinische Anwendbarkeit behauptet wird, reicht den Geldgebern. So entsteht die Therapieaussicht.

Zwölf Millionen Mark bekommen WissenschaftlerInnen der Universität Würzburg für ihren Sonderforschungsbereich 465 »Entwicklung und Manipulation pluripotenter Zellen«. Dahinter verbirgt sich die experimentelle Arbeit an Zellen vom Tier oder an Körpersubstanzen erwachsener Menschen. Versprochen wird auch hier die Behandlung verschiedener Tumorarten.

Die therapeutischen Perspektiven sind der Joker für die Öffentlichkeit. Vor allem muss ständig Neues produziert werden - seien es Theorien, Methoden oder Werkzeuge. Nur mit Innovationen lassen sich private und öffentliche Gelder einwerben. Nur so lässt sich symbolisches Kapital erwirtschaften, lassen sich Karrieren und Publikationen in bare Münze und bessere Arbeitsbedingungen verwandeln.

Deshalb regt die Arbeit am embryonalen Material in der Stammzellforschung die wissenschaftliche Phantasie an. Unbeschränkte Produktionsmöglichkeiten von Stoffen, Geweben und Organen könnten möglich werden. Seit Dolly gilt eines dieser Manipulationsverfahren am Embryo als prinzipiell machbar und als karrierefördernd. Ian Wilmuth, der Produzent von Dolly hat es jedenfalls geschafft. Er begann mit den Drittmitteln der Europäischen Union. Nun ist sein Institut mit der US-amerikanischen Stammzellfirma Geron Corp. fusioniert. Eine Erfolgsstory, die Nachahmer provoziert.

Unter Experten wird allerdings bezweifelt, ob die Dolly-Methode wirklich das Nonplusultra der Stammzell-Forschung ist. In Deutschland setzt die wissenschaftliche Community auf Manipulationen an so genannten adulten Zellen. Es soll mindestens zwanzig organspezifische Stammzellen bei Erwachsenen geben, aus denen Gewebematerial gezüchtet werden könnte. Das gilt als vielversprechend für genetische Manipulationsübungen. Dafür benötigt man aber als Vergleichsgröße die Arbeitsergebnisse mit embryonalem Material. Die politische Alternative - Manipulation an Körperzellen statt an embryonalem Material - stellt sich also als Trugschluss heraus. Entsprechend sieht das neue Schwerpunktprogramm der DFG aus. Vor allem Projekte am adulten Material werden finanziert. Für den Vergleich mit embryonalen Substanzen setzen die Forschungsförderer auf den Import aus den Vereinigten Staaten. Die Entscheidung soll voraussichtlich im Februar fallen.

Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Debatte, bei der es angeblich um die ethischen Grenzen der Genforschung geht, dynamisiert sich ein ganzer Forschungszweig. Dadurch werden nicht nur immer mehr Körpersubstanzen nutzbar und ökonomisiert. Auch der Einsatz von embryonalen Stammzellen wird immer wahrscheinlicher. Der Bedarf wächst. Ob Stammzellen aus Tieren, Körpergeweben, Embryonen oder Nabelschnurblut, hat man erst einmal die Forschungsstrukturen aufgebaut, ist ein Ende der Begehrlichkeiten nicht abzusehen. Dabei geht es nicht um Therapie, sondern um zwei grundlegende Entwicklungen: die bioindustrielle Produktion von Körperstoffen sowie genetische Manipulationsverfahren.

Gleichzeitig wird die Nachfrage von Ersatzgewebe organisiert. In der Mitgliederzeitschrift der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft wird unter der Rubrik »Hoffnung für MS-Kranke« die embryonale Stammzellforschung angepriesen. Die Leipziger Firma Vita34 setzt ebenfalls auf Zukunft: Sie bietet fachgerechte Lagerung von mütterlichem Nabelschnurblut an und stellt eine Revolution der Medizin durch Gewebeproduktion mittels Stammzelltechnologie in Aussicht. Für 3 500 Mark kann man schon eine Art biologischer Lebensversicherung für den Nachwuchs erwerben: Nabelschnurblut, »ein kostbares Gut«.

Die Beschleunigung der Biowissenschaften ist atemberaubend. Mit Verweis auf schon bestehende, aber begrenzte Zellübertragungen, entsteht ein Markt der Versprechungen. Das ist Fortschritt.