»No Angels«

Gecastete Engel

No Angels ist die erste Popgruppe, die keine Probleme mit dem Retortenimage hat.

Es ist Winter. Es ist kalt. Es ist viel zu früh. Fünf junge Damen, eine von ihnen verquollen und vergrippt, drängeln sich in einen Kleinbus. Ihre Kollegin lässt auf der siebenstündigen Tour von München in die Südtiroler Alpen ihren Mageninhalt im Straßengraben zurück. Am Zielort angekommen werden »die Mädels« in silberne Ski-Overalls gesteckt, die mehr als nur entfernt an die einschlägige Reeperbahn-Couture erinnern. Sie werden mit einem Helikopter auf einen Berggipfel geflogen, wo sie für ein Boulevard-Magazin stundenlang möglichst elegant im Tiefschnee rumhopsen müssen. Zum Après-Ski dürfen sie noch eine bierselige, aber tanzunfreudige Kneipengesellschaft in Stimmung bringen. Am nächsten Morgen sind die Kranken noch kränker und wollen erstmal nicht mehr aufstehen.

Ist das der wahre Girlgroup-Glamour? RTL II sagt »ja«, und Millionen verfolgen jeden Dienstag in der Sendung »Popstars«, wie es dazu kommen konnte, dass sich aus einer Gruppe von knapp zehntausend jungen Mädchen mit demselben Traum allmählich die Girlgroup No Angels herausschält. In der vergangenen Woche brachten sie mit »Daylight« ihren ersten Song als CD heraus, diese Woche steigen sie damit direkt auf Nummer eins der deutschen Charts ein, mit doppelt so viel verkauften Singles wie die Nummer zwei der Woche.

Der Weg dorthin führt auch über Promotiontermine auf Alpengipfeln und in Kneipen. Seit »Popstars« im Fernsehen läuft, ist auch das nicht mehr abschreckend. Im Gegenteil. Und genau darin liegt das Besondere und vielleicht sogar das Gewagte an dieser Reality-Dokumentation. Mit »Popstars« kommt es zum Paradigmenwechsel in der Teenie- und Hit-Industrie, indem Teile des Popband-Produktionsprozesses für die Konsumenten transparent gemacht werden. Bisher galt eher das Motto, über die Hintergründe und Enststehungsgeschichte von Retortenbands Stillschweigen zu wahren. Das Wichtigste im Popgeschäft ist schließlich der Erfolg im Hier und Jetzt. Nur dann lohnt es sich, über eine Zukunft nachzudenken.

Die Vergangenheit der Stars wird entweder verschwiegen oder konstruiert, denn Teenies wollen sich mit einer Band vor allem identifizieren. Ein Effekt, der sich leichter einstellt, so dachte man wohl bisher, wenn man das Publikum in dem Glauben lässt, dass ihre Stars ausschließlich ihrem Herzen und nicht den Weisungen irgendeines ältlichen Plattenbosses oder Produzenten folgen. Vermutlich wissen viele junge Konsumenten gar nicht, dass es so etwas wie einen Produzenten überhaupt gibt, dass ihre Lieblingssongs nicht am Schreibtisch nach einer durchweinten Nacht geschrieben werden und die Artikel und Fernsehbeiträge nicht gemacht werden, weil die Redakteure echte Fans der Band sind, sondern dass hinter allem ein bewährtes und ausgeklügeltes System und eine ganze Menge Geld stecken. Was früher möglichst verheimlicht wurde, ist bei RTL II heute ein Aspekt des Glamours. »She works hard for the money« ist nichts mehr, worüber man besser schweigt.

In einer Marketingstudie heißt es, dass der Traumberuf junger Frauen, also die Möglichkeit konventionellen, gesellschaftlichen Rollenzuweisungen auf tendenziell konventionelle Art und Weise zu entfliehen, sich über die Jahrzehnte gewandelt hat. Einst war es die Sekrtärin, dann die Stewardess, heute ist es der Popstar. Allerdings muss es sicherlich mehr Sekretärinnen und Stewardessen geben als Popstars, was die Sache mit dem Traumberuf nicht gerade einfacher macht.

Entsprechend begann die RTL II-Dokumentation auch mit rührenden bis peinlichen Castings, wo sich viele untalentierte Mädchen tummelten, die nicht richtig singen konnten oder nicht gut genug vorbereitet waren. Des einen Pein war in diesem Fall des anderen Unterhaltung, was sich bis zu der Folge hinzog, in der sich No Angels - bestehend aus Nadja, Jessica, Vanessa, Sandy und Lucy - gegen alle anderen durchsetzten. Zwischendurch flossen, wie sollte es anders sein, literweise Schweiß und Tränen, und man wünschte sich, dass zumindest gegen Ende des Auswahlverfahrens, wenn der Choreograf und die Jury, die streng, aber immer gut drauf war, die Kandidatinnen wieder an den Rand des Zusammenbruchs getrieben hatten, die Mädchen eine zehnköpfige Punkrockband gründeten und RTL II die Zunge rausstreckten.

Zum Schluss hatten es also Nadja, Jessica, Vanessa, Sandy und Lucy geschafft - und was soll man sagen, die Wahl war sympathisch. Ja, es ist leicht, Sandy, die Jeansverkäuferin aus Koblenz, Lucy, die bulgarische Sängerin, Nadja, die 18jährige Mutter, Vanessa aus Berlin und Jessica, die ihre Reiseverkehrskauffraulehre für den Traumjob Popstar aufgab, sympathisch zu finden. Sie sind sehr hübsch und können auch singen und tanzen, was immer wieder von ihren Erfindern betont wird, als wäre ihnen die Sache mit der ausgestellten Künstlichkeit selbst nicht ganz geheuer.

Ein weiteres interessantes Merkmal dieser Band wie überhaupt des gesamten RTL II-Trash-Reality-Doku-Trallalas ist die Besetzung der No Angels, die Hautfarben und Elternhäuser aus allen Teilen der Welt auf sich vereinen. Beweist das, dass der durchschnittliche RTL II-Teutone auf »exotische Typen« zur Unterhaltung steht, oder zeigt es, dass junge Mädchen bzw. Popkonsumenten Multikulti super finden?

Der Erfolgsplan des Senders und der Platten-Firma ist in jedem Fall aufgegangen, »Daylight«, ein hübscher, an Madonna- bzw. William Orbit-Stücke angelehnter Song, steigt auf Platz eins in die Charts ein, und auch jedes andere Medium möchte inzwischen am No Angels-Hype teilhaben. Selbst Bravo musste aufspringen, nachdem sie vorab die Story verpennt hatte, und stattdessen die Konkurrenten der Yam die Band von Anfang an mit aufbauten.

Das wirklich Spannende allerdings wird mit den No Angels passieren, wenn keine Kameras da sind, wenn keine »Popstar«-Folgen mehr laufen und wenn die Nummer eins ein Ereignis von gestern ist. Was passiert, wenn es bei dem einen Hit bleibt? Wie lang ist der Atem der Plattenfirma? Werden sich die fünf jungen Mädchen auf Dauer verstehen? Schließlich darf man schon jetzt auf der Homepage sein »Lieblingsgirl« wählen, wobei sich Sandy und Vanessa gerade als Favoritinnen abgesetzt haben. Wenn es also richtig interessant wird, darf man mal wieder nicht dabei sein. Es sei denn, der Sender kommt auf die grandiose Idee, die No Angels zusammen mit der Jury, dem Produzenten und dem Choreografen im »Big Brother«-Haus einzusperren oder ins »Girlscamp« zu schicken.

No Angels: »Daylight«. Polydor