Kulturkampf der Spontis in Frankfurt am Main

Punk kam nicht bis Stalingrad

Gewalt war immer integraler Bestandteil von Popkultur. Die Frankfurter Spontis setzten schon in den späten Siebzigern ihre Biografie als alleingültige Matrix von Rebellion.

Heiße Bilder auf allen Kanälen. Am Zürcher Hauptbahnhof, im Frankfurter Westend - Bilder »wie aus einem Katastrophenfilm«, sah die Süddeutsche Zeitung. Bilder, nach denen sich die Beastie Boys wie John Woo, Rage Against The Machine wie Quentin Tarantino die Finger lecken würden. Aber: Je heißer die Bilder, desto kühler die Sprache. Der offensichtliche Glamour der Gewalt wird von der öffentlichen Rede dementiert. Runter von der symbolischen Ebene auf den Boden strafrechtlich relevanter Tatsachen. Gewalt, so wird uns erzählt, war allenfalls Mittel zum Zweck, ultima ratio. Ja klar, und Geschlechtsverkehr diente der Fortpflanzung. Wie Drogen und Sexualität waren gewisse Formen von Gewalt integraler Bestandteil des Politico-Lifestyles zwischen dem 2. Juni 1967 und dem 18. Oktober 1977, nicht nur in Frankfurt.

Genau wie Joscha Schmierer, heute Stratege im Außenministerium, verbrachte Gerd Koenen die längste Zeit des so genannten roten Jahrzehnts in der Führungsspitze des Kommunistischen Bunds Westdeutschland, bei dem Rausch und Polygamie verpönt waren. In den Achtzigern war Koenen Redakteur beim Frankfurter Pflasterstrand, heute wird er gern gefragt, wenn erforscht werden soll: What's left? In der FR trug Koenen zur Pathologisierung der Revolte bei, selbstverständlich ohne eigene »Zustände« zu erwähnen: »Ein Gutteil dieser Generation hat ein Jahrzehnt wie im Ausnahmezustand gelebt. Und das muss mentale Spuren hinterlassen haben.« Die verkaterte Generation? Stammheim-morning-coming-down? Dass viele diesen zehnjährigen Ausnahmezustand als die Zeit ihres Lebens erlebt haben, als Ausnahmezustand von einem Regelleben, dem sie entkommen wollten - schon vergessen?

Pop und Gewalt

Gewalt, wem sage ich das, diente noch jeder neuen Popmusik als Geburtshelfer. Sie spendet Glanz und stiftet Gründungsmythen. Im Rock'n'Roll ging »die Saat der Gewalt« auf, als die behäbige Schmalzlocke Bill Haley Saalschlachten unter Halbstarken provozierte; der Auftritt der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne, die von randalierenden Fans in Schutt und Asche gelegt wurde, ging in die Geschichte ein als Beat-Komplement zur »Schlacht am Tegeler Weg«, dem ersten großen Clash zwischen Apo und Staatsgewalt in Berlin. Die Schlägereien zwischen Mods und Rockern in englischen Seebädern sind keine Erfindung von Pete Townshend. Fernseher aus Hotelzimmern zu werfen ist Rock-Folklore. Die Gewalt der Punkrevolte richtete sich gegen platzhaltende Hippies und gegen den eigenen Körper: Rasierklingen, Sicherheitsnadeln, Kampfpogo. Im HipHop kippt die Genre-Narration von Bandenkrieg und Gangsterleben mitunter sogar in blutigen Ernst um. Historische Songs heißen »Fuck The Police« und »Copkiller«. Der ist von Body Count, der Metalband des Rappers Ice T, dessen Platten Joschka Fischer mit seinem Sohn gehört haben will. Sonst liebt er AC/ DCs »Highway To Hell«. Der Wu Tang-Clan, die bedeutendste HipHop-Gruppe der letzten Jahre, führt das Klandestine bereits im Namen.

Gang, Band(e), Clan oder Scene, wie damals viele sagten - Spurenelemente all dieser Stile finden sich in der Performance des Frankfurter Revolutionären Kampfes (RK). Seine Bühne war die Bockenheimer Landstraße, die den Opernplatz mit der Universität verbindet. Den Streetfightern des RK dienten die Straßen rund um die Universität als »ihre Universitäten«. Dank der Asta-Hoheit über Räume und Mittel avancierte die Universität zum logistischen Zentrum der Bewegung und bildete einen hübschen Kontrast zur Selbststilisierung der politrockenden Autodidakten, die aus geklauten Büchern auf eigene Faust allemal mehr brauchbares »Streetknowledge« wrangen als die Bürgersöhnchen in den »Institutiönchen« (Meinrad Jungblut). Den kleinen Klassenkampf in den eigenen Reihen hat Joschka Fischer mit seinen Buddies noch stets gewonnen, im Stahlbad der längst zum Rebellenkitsch hochgejazzten »nächtelangen Diskussionen« holten sich viele die Fitness »für Karrieren im Kapitalismus« (Claudius Seidl in der SZ).

Ein Hauch Stalingrad

»Junge, wer mit zwanzig kein Anarchist gewesen ist, aus dem wird nie ein guter Demokrat«. In ihrem »Blue Yodel für Herbert Wehner« formulierte die Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle bereits 1984 eine vage Ahnung davon, wie man den Glamour von Militanz und Gewalt auf der Straße in Macht und Einfluss im Staat konvertiert. Wer damals prophezeit hätte, dass ein 20jähriger Anarchist mit Ende 30 den Bundestagspräsidenten »Arsch-loch« nennen darf, um mit 50 deutsche Soldaten in einen Angriffskrieg zu schicken - so einen hätte man einen Konsalik auf LSD genannt, oder einen Counterinsurgency-verseuchten Paranoiker.

Heute genießt der ehemalige linksradikale Streetfighter Fischer eine große Wertschätzung quer durch die politischen Fraktionen. Von Metzgersohn zu Metzgersohn lobte der bekennende CSU-Wähler Uli Hoeneß: »Er ist der Beste, den wir je hatten. Das ist ein Mann, den ich 100prozentig wählen könnte.« Die Sympathie zwischen dem Hobby-Fußballer Fischer und dem Hobby-Politiker Hoeneß ist symptomatisch für die prekäre Rolle der Gewalt in dieser Selbstvergewisserungsdebatte. »Vielen Managern zum Beispiel imponiert Fischer, weil er sich durchgebissen hat. In Teilen dieses leistungsorientierten, durchsetzungsfähigen, ökonomisch harten Bürgertums heißt es, Fischers Weg war nicht immer gerade, aber er führte nach oben. So wünscht man sich das später mal für die eigenen Söhne« (der Parteienforscher Franz Walter in der taz).

Mein Vater ist kein Manager, allenfalls ein ökonomisch harter Kleinbürger mit unkompliziertem Verhältnis zu autoritärer Gewalt, lebenslänglicher CDU-Wähler. Er schätzt Fischer für seine rhetorische Schärfe, für sein »Durchbeiß«-Vermögen. So wünscht man sich das später mal für die eigenen Söhne. Verdankt also Fischer seine Popularität einer motivischen Gemengelage, die möglicherweise wirklich ist, was dieser Tage so vehement beschworen wird: typisch deutsch?

Aufklärung kommt von einem Update der »Studien zum autoritären Charakter«, 1950 von einem alten Frankfurter vorgelegt. Allerdings fand Adorno damals mehr Beachtung als die aktuelle Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese belegt, so Die Zeit im Dezember: »Autoritäre Einstellungen und Angst vor den Fremden stecken auch in den Köpfen der bürgerlichen Mitte.« Danach finden 73 Prozent der Deutschen, dass »nur wer etwas leistet, auch etwas verdienen« soll, zwei Drittel fordern: »Deutschland braucht eine starke Hand.« Fischers Krisenmanagement in eigener Sache und die Kontinuität der starken Hand mag die übergreifende Zustimmungsschnittmenge erklären. Einer, der »auch mal hinlangt« (Fischer über Fischer), genießt auch von rechts mehr als nur klammheimliche Bewunderung.

In fast alle Elogen und Tiraden auf die Spontivergangenheit und Erfolgsgegenwart mischt sich ein Angstlustschauer, eine unverhohlene Bewunderung für die Durchsetzungsfähigkeit, das »Durchbeißen« der Militanten, ein Hauch von Stalingrad. Die Veteranen erzählen die Geschichte vom glücklichen Ende her: Jaja, es gab da Gewalt, eine gewisse Verlockung, auch mal 'n Stein geworfen, aber am Ende ist doch alles noch mal gutgegangen. Und die »Terroristen«, das sind am Ende immer die andern. Diese Logik exorziert jede Form von (Gegen-)Gewalt für das Hier und Jetzt.

Nach dem deutschen Selbstreinigungswinter stehen die Lebensläufe der geläuterten Kämpfer wie Kriegerdenkmäler in der Berliner Mitte. Symbole für eine befriedete Zivilgesellschaft, in der alles nicht so heiß gegessen wird, weder von rechts noch von links. Eine Gesellschaft mithin, in der es keine guten Gründe mehr gibt für gewaltsame Befreiungsschläge. Repressalien, gegen die man sich zu wehren hätte? Ausgrenzung? Strukturelle Gewalt? Die grüne Pastorin Antje Vollmer, einst KPD, heute Vizepräsidentin des Bundestages, sagte schon vor drei Jahren in dankenswerter Offenheit: »Natürlich ist die Rückkehr der Grünen zur parlamentarischen Identität der Resozialisierungsprozess einer ganzen politischen Generation.«

Die intellektuelle Kronzeugenregelung

Was Vollmer staatstragend »Resozialisierung« nennt, die massenhafte Revision politischer Grundannahmen, erlebt in diesen Wochen einen Dynamisierungsschub. Dabei hat die Symbolfigur Fischer für den exlinken Mainstream geschafft, was Niklas Luhmann für das von Diedrich Diederichsen beschriebene Soziotop »Berlin Alt 68« geleistet hat (FR): den »einigermaßen biografieneutralen Ausstieg aus dem linken Kontinuum ihrer Generation - als eine Art intellektuelle Kronzeugenregelung«. Wenn Fischer bezeugt, dass der Häuserkampf legitim, der Einsatz von Gewalt aber unberechtigt war, suggeriert er bei aller Selbstkritik eine politisch-moralische Kontinuität seines Handelns, wo er doch »objektiv« - wie man damals sagte - heute die Interessen jener vertritt, die er einst bekämpft hat. Damit verleiht er den Bomben auf Belgrad eine zweite Legitimität und etabliert seine Biografie als allfällig gültige Matrix von Rebellion und Altersweisheit.

Zugleich delegitimiert diese Proto-Laufbahn »diejenigen, die 68 zu Recht weitertreiben wollten, ob mit Deleuze oder Jameson, Butler oder Derrida« (Diederichsen). Diejenigen, die 68, sagen wir, in Seattle, Prag oder Davos weitertreiben wollen, werden infantilisiert. Selten fehlt in der Berichterstattung das Adjektiv »jugendlich« vor den Protestierenden. Daniel Cohn-Bendit war 23, als er an der Spitze einer Bewegung stand, die das Regime des General De Gaulle ins Wanken brachte. Diejenigen, die in den Neunzigern auch mit den Mitteln der Spontis die Entstehung und Verbreitung »national befreiter Zonen« wenn nicht verhindert, so doch eingedämmt haben, werden denunziert und kriminalisiert. Selten fehlt in der Berichterstattung das »so genannte« vor den Antifaschisten: »So hält man sich den Nachwuchs vom Leibe« (Diederichsen).

Eins, zwei, drei Generationen

Schon einmal hatten sich Frankfurts Spontis einen bedrohlichen Subkulturnachwuchs vom Hals gehalten. 1977, das Jahr der Toten von Stammheim und das Jahr, in dem Punk nicht in Frankfurt ankam. Beide (Nicht-) Ereignisse sind von entscheidender Bedeutung für den Ausstieg aus dem Kontinuum »Politik als integraler Lebensstil«. »Stammheim« wurde zur Chiffre für diesen Ausstieg. Mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe starb am 18.Oktober - ein Jahr nach Ulrike Meinhof, drei Jahre nach Holger Meins - die zeitgenössische Herausforderung. Die (Weg-) Genossen, die auch eine moralische Verpflichtung zur Politik darstellten, waren tot. Die Existenz der RAF erinnerte die Aktivisten in der Legalität schmerzhaft an den möglichen Preis der Politik, daran, dass man sich aus dieser Praxis nicht einfach abmelden kann wie aus dem Tai-Chi-Kurs. Nach Stammheim begradigten viele Frankfurter Spontis ihre politische Biografie, die bei einigen eher zufällig nicht bei der RAF geendet hatte. Was was wäre gewesen, wenn der Polizist Jürgen Weber gestorben wäre? Spontis in Isolationshaft? Unter Kontaktsperre?

Solange »die erste Generation« der RAFlebte, war das Bewusstsein des Gerade-noch-mal dran-vorbei-Geschlittertseins unangenehm virulent. Nach den Toden von Stammheim setzte sich rasch die distanzierende Sprachregelung von der »zweiten Generation« durch. 1977/78 waren die Spontis im Schnitt Anfang Dreißig, seit zehn Jahren im politisch-hedonistischen Ausnahmezustand, manche hatten ihre Ausbildung beendet und plötzlich wurden sie konfrontiert mit Gerüchten von einer neuen Rock-Jugend-Mode-Bewegung-Musik aus England. Erste Fotos von kahlrasierten, stachligen »hässlichen« a(nti)sexuellen, geschlechtslosen Wesen schwappten rüber.

Im Sponti-Frankfurt dominierte bis dahin ein schmaler Soundkanon der revolutionären Initiation: (Dead) White Males; Doors, Stones, Scherben, manchmal minimalekstatisch reduziert: »Ich erinnere mich an Parties, da wurde die ganze Nacht nur ein Lied gespielt: ðSatisfactionЫ (Johnny Klinke, heute Chef des Varietés »Tigerpalast«, wie Fischer Mitglied der Putzgruppe und FAZ-Werbe-Pinup, in der FR).

Der definitionsmächtige Inner Circle hatte Mitte der Siebziger einen informellen, aber verbindlichen subkulturellen Status Quo etabliert. Den Values der männerbündelnden Führungsclique zufolge war Frankfurt immer die Stadt der Stones und nicht die der Beatles, »Happiness Is A Warm Gun« hin oder her.

Punk Never Happened

Auf eine derart formatierte, wertkonservative, den Status eines urbanen Machtfaktors anvisierende (sub-)kulturelle Szene trifft also plötzlich das Gerücht von Punk. Ballyhoo um aggressive Habits, Kolportagen von spuckenden und tretenden Typen mit sicherheitsnadeldurchbohrten, rasierten Visagen machen die Runde. Attitüden, die zwar strukturell den rebellischen Erfahrungen der rockistischen Altspontis ähneln, in ihren Erscheinungsformen - Haare, Ästhetik, Künstlichkeit - diesen jedoch diametral entgegen stehen. Diesen Widerspruch muss die Szene auflösen. Um ihr Gewaltmonopol zu sichern, müssen die Herren der subkulturellen Hegemonie - die Hippies in Control - die Infragestellung ihres ureigenen Terrains durch eine neue Generation bekämpfen, die ihrerseits ein Menschenrecht auf harte, aggressive Musik und Attitudes reklamiert.

Dies geschieht auf drei Arten. Ignorieren: Man setzt die eigene Biografie als alleingültige Matrix von Rebellion. Ausgrenzen: Dafür kommen Fotos von Siouxsie und den Sex Pistols mit Hakenkreuzen ebenso gelegen wie Berichte von National Front-Aktivisten bei Sham 69-Konzerten - Eric Claptons Flirt mit der National Front zur selben Zeit wird weniger ernst genommen. Der hatte ja den Sheriff erschossen. Integrieren: Nachdem der Angriff von Punk auf die Popindustrie abgewehrt ist, wird Punk post festum als erfrischendes Update der Rolling Stones kanonisiert.

Ein Ort dieser historischen Bewältigung ist die Batschkapp. Nachdem die Universität als logistisches Zentrum der Bewegung politisch ins Wanken geraten war, hatten einige Aktivisten das ehemalige Kino angemietet, nicht ohne zu diesem Zweck einen Verein zu gründen: Eine »basisdemokratische« Unterwanderung sollte verhindert werden.

Zunächst tagten Sponti-Gruppen in der Batschkapp, bevor in den späten Siebzigern so genannte alternative Theatergruppen einfielen. Die Spontiszene reagierte auf den Boom mit Karl Napp's Chaos Theater, featuring spätere Halbprominenz wie Klaus Trebes, heute eine Art Post68er-Alfredissimo mit Gourmet-Lokal und Woche-Kolumne, Dieter Thomas und Hendrike von Sydow, die heute mit Alternativ-Theater durch die Gemeindehäuser tingeln, sowie Matthias Beltz, heute ein populärer Kabarettist. Dann kamen die ersten Rockbands, und seit den frühen Achtzigern ist die Batschkapp Konzerthalle und Diskothek. Für Kontinuität im Wandel sorgt Batschkapp-Boss Ralf Scheffler, Alt-Sponti und Kumpel von Fischer und Koenigs. Die Struktur des Funktionswandels von politischem Zentrum über alternative Kulturstätte hin zum kommerziellen Konzertsaal darf als frankfurttypisch gelten. Langer Marsch in die Institution funktioniert, Klassenziel erreicht.

Die subkulturelle Hegemonie der Spontiszene in Frankfurt konnte also durch Punk nicht erschüttert, geschweige denn überwunden werden. In keiner anderen Stadt war die alte Spontilinke so lange in control, so dominant als Immer-Noch-Jugendkultur und only game in town. Diese Punk-never happened-History ist eine Voraussetzung für die »erfolgreiche« Transformation der Frankfurter Spontilinken zu dem, was der Trendforscher Matthias Horx »linksradikale Neu-Aristokratie« nannte.

Die Kehrseite der Sponti-Hegemonie zeigte sich in den achtziger Jahren: Ihr bornierter Konservatismus in ästhetischen Fragen führte dazu, dass künstlerisch dissidente Strömungen und Gruppierungen sich von dieser Linken distanzieren mussten, dass sie ihre Dissidenz »unpolitisch«, »antipolitisch« oder »rechts« kodieren mussten - oder »stalinistisch«. Der Erfolg der Böhsen Onkelz und die »Nachwuchsprobleme« der Grünen Partei gehören zu den mehr und den weniger tragischen Folgen dieser ästhetischen Ignoranz.