Konflikt um Flüchtlinge

Bleiberecht im Lager

Um den Passagieren der »East Sea« kein Asyl gewähren zu müssen, brachten die französischen Behörden sie in einer eigens eingerichteten Transitzone unter.

Was ist Ihr erster Eindruck von dem Land, in dem Sie vor vier Tagen angekommen sind?« wollte ein Journalist nach der Ankunft wissen. »Die Hunde sind so dick in Frankreich. Ich habe mir gesagt, dass die Hunde hier besser behandelt werden als die Menschen in unserem Land«, antwortete ein 25jähriger Kurde aus dem Irak, der am vorletzten Samstag mit dem Flüchtlingsschiff »East Sea« an der französischen Mittelmeerküste gestrandet war.

Der Mann ist einer von 910 Flüchtlingen auf dem Schiff, das seine Fahrt unweit von Saint-Raphael an der Côte d'Azur abrupt stoppte. Der Kapitän hatte das Schiff auf die Felsen gesetzt. Er und seine Mannschaft verschwanden noch in derselben Nacht. Interpol fahndet inzwischen nach dem Bordkommandanten, der - wie der Eigentümer der »East Sea« - syrischer Staatsbürger sein soll.

Die Verhältnisse auf dem Schiff während der eine Woche dauernden Überfahrt schildern die Insassen nahezu gleichlautend: Die Gesichter des Kapitäns und seiner Besatzung hätten sie nie gesehen. Die Männer zeigten sich grundsätzlich nur maskiert, wenn sie ihnen vom Deck aus gelegentlich Lebensmittel und Wasserflaschen nach unten in den Frachtraum warfen. In völliger Dunkelheit harrten dort über 900 Personen - die Hälfte von ihnen Kinder - acht Tage unter schlimmsten hygienischen Zuständen aus. Drei Babies kamen während der Überfahrt zur Welt. Immer mehr Immigranten überqueren das Mittelmeer auf diesem Weg, da die Schlupflöcher immer enger werden, überhaupt nach Europa einzureisen.

Der allergrößte Teil der »East-Sea«-Flüchtlinge sind Kurden aus dem Nordirak, und zwar aus jenem Teil, der nicht mehr in der 1991 nach dem Zweiten Golfkrieg eingerichteten internationalen Schutzzone liegt. Nach wie vor steht dieses Gebiet unter der Kontrolle Saddam Husseins, der 1988 in Halabja Gasbomben auf die kurdische Bevölkerung werfen ließ.

Zunächst reagierten viele Franzosen solidarisch auf die Ankunft der Flüchtlinge. Die Hilfeleistungen von Bewohnern der südost-französischen Region - vor allem in Form von Kleidungsstücken - fielen so umfangreich aus, dass die Mitarbeiter von Hilfsdiensten deren Annahme zentralisieren mussten. Zudem sprachen sich 78 Prozent der französischen Bevölkerung in einer Umfrage der Boulevardzeitung Le Parisien für die Aufnahme der Bootsflüchtlinge aus: Davon waren 20 Prozent für eine generelle Aufnahme, 58 Prozent plädierten zunächst für eine Prüfung der Fluchtgründe.

Doch es gibt noch ein anderes Frankreich, jenes des nationalpopulistischen ehemaligen Innenministers Charles Pasqua etwa, der polterte: »Man muss diese Leute dahin zurückschicken, wo sie herkommen. (...) Wenn wir sie auf unserem Territorium aufnehmen, öffnen wir eine weite Bresche.« Da durften die Neofaschisten nicht nachstehen. Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen ereiferte sich: »Diese kriminelle Aktion kündigt zweifellos eine neue Etappe der Invasion in Frankreich und Europa an.«

Dem Abschottungskurs wollten sich aber nicht alle Rechten anschließen. So erinnerte der Sprecher des neogaullistischen RPR, Patrick Devedjian, daran, wie es seiner eigenen Familie ergangen war: »Wir sind aufgenommen worden, und man hat uns behalten.« Deshalb könne man auch heute »diese Leute, die in größter Not an unsere Tür klopfen, nur aufnehmen«. Wie eine nicht unbedeutende Bevölkerungsgruppe in Frankreich war Devedjians Familie nach dem Massenmord an den Armeniern Ende des Ersten Weltkriegs nach Frankreich emigriert. Auch dessen Parteikollege Philippe Séguin argumentiert ähnlich: »Es kommt nicht in Frage, sie zurückzuschicken. Europa würde sich dabei entehren.«

Die ersten Reaktionen der führenden sozialistischen Politiker hingegen fielen reichlich kühl aus. So betonten der Vorsitende der PS, François Holland, und Premierminister Lionel Jospin zwar den notwendigen »humanitären« Charakter der Reaktion Frankreichs. Doch nicht ohne hinzuzufügen, dass keineswegs »die Hoffnung und die Illusion einer Integration in unser Land« geweckt werden dürften. Der sozialistische Innenminister Daniel Vaillant positionierte sich im französischen Fernsehen gar zwischen dem bürgerlichen Rechtsaußen Pasqua und anderen konservativen Politikern: »Ich versuche mir einen Weg zu bahnen zwischen dem, was Herr Pasqua sagt und was mir nicht sehr human erscheint, und den Herren Séguin und Devedjian, die sagen: ðNehmen wir sie auf, nehmen wir sie auf.Ы

Eine mögliche Erklärung für diese Rochade konservativer und sozialistischer Positionen liegt in den bevorstehenden Kommunalwahlen Mitte März. Beide Seiten versuchen, in der politischen Mitte zu punkten, wobei die Sozialisten den Rechten beim Thema Flüchtlinge keine Angriffsfläche bieten wollen. Dagegen warnte Henri Emmanuelli vom linken Flügel der Sozialisten seine Partei : »Diese Opfer des Elends und der politischen Lage im Mittleren Osten ähneln verflucht jenen Verdammten dieser Erde, die die Linke hundert Jahre hindurch besungen hat.«

Direkt nach der Ankunft der Bootsflüchtlinge hatte die Regierung in einer ausgedienten Kaserne in Fréjus zunächst eine so genannte Transitzone eingerichtet - und diese zum exterritorialen Gebiet erklärt. Ähnlich wie in den Internierungslagern auf bundesdeutschen Flughäfen können Asylsuchende hier bis zu 20 Tage festgehalten werden, in denen geprüft wird, ob ihr Asylantrag nicht »offensichtlich unbegründet« sei.

Doch im Fall der 910 Flüchtlinge war die juristische Fiktion der Transitzone unhaltbar. Schließlich war offenkundig, dass sie bei ihrer Landung in Saint-Raphael französischen Boden unter den Füßen hatten. Erst einen Tag später wurde die Transitzone eingerichtet. Anwälte antirassistischer Rechtsberatungs-Organisationen klagten daher Anfang letzter Woche gegen die »illegale Einrichtung« des Lagers.

Um die sich abzeichnende gerichtliche Schlappe zu vermeiden, entschied das Kabinett Jospin vorige Woche, die Kurden für acht Tage aus der Transitzone auf französischen Boden zu entlassen. Über die in dieser Zeit gestellten Asylanträge solle die zuständige Behörde Ofpra - wie üblich bei Einzelfallprüfungen - entscheiden. Das gilt jedoch nicht für sieben Palästinenser, die sich eher zufällig an Bord befanden und aus dem Südlibanon stammen. Weil sie angeblich keinen Asylgrund vorweisen konnten, wurden sie am Flughafen von Nizza in Abschiebehaft genommen. Antirassistische Organisationen vermuten, die Palästinenser müssten nun dafür herhalten, dass Paris das vorübergehende Bleiberecht der Kurden nicht verhindern konnte.

Mit dem Status Quo zufrieden gibt sich Jospin deshalb aber noch lange nicht. So verkündete der Premier, dass »diese Art von Fragen im französischen wie auch im europäischen Maßstab angegangen werden« müssten. Womöglich deutete er damit an, dass neben Deutschland und Großbritannien künftig auch Frankreich stärker auf eine Angleichung der Aufnahme- und Asylprozeduren in den EU-Staaten drängen wird.

Allerdings könnte Jospin auch eine eventuelle »Lastenteilung« bei der Aufnahme der kurdischen Flüchtlinge gemeint haben. Denn die meisten der »East Sea«-Flüchtlinge wollten ursprünglich gar nicht nach Frankreich, sondern nach Deutschland oder Großbritannien, wo die größten kurdischen und irakischen Communities Westeuropas bestehen. Knapp 30 Kurden wurden am Wochenende bereits von den deutschen Behörden in Köln und Offenburg aufgegriffen und nach Frankreich zurückgeschickt.

Mindestens weitere 100 Kurden haben sich aus Südfrankreich abgesetzt, vermutlich in andere EU-Länder. Dort aber können sie keinen Asylantrag mehr stellen, das sie bereits in das Schengen-Mitgliedsland Frankreich eingereist sind. Doch könnte Jospin seinen EU-Partnern in diesen Fällen entgegekommen - sollten diese sich bei der »Lastenteilung« kompromissbereit zeigen. Schließlich geht der Trend ohnehin weg von formellen, garantierten Asylverfahren und hin zu juristisch nicht abgesicherten, zeitlich befristeten Duldungsbeschlüssen.