Häftlingsrevolten in Brasilien

Die Erfindung der Hölle

Während der Besuchszeit am vorletzten Sonntag waren drei Schüsse aus dem gigantischen Gefängniskomplex Carandiru in São Paulo zu hören. Kurz darauf erhoben sich auch in 28 weiteren Haftanstalten des gleichnamigen Bundesstaates fast 30 000 Gefangene. Die mediale Aufbereitung des als »größte Gefängnisrevolte in der Geschichte Lateinamerikas« beworbenen Aufstandes musste jedoch alle Zweifel über mögliche Schwachstellen im System der inneren Sicherheit hinweggefegt haben. Rund um die Uhr konnten die Brasilianer live vor dem Bildschirm mitverfolgen, wie die Militärpolizei gegen die Revolte vorging. Bilder von bezwungenen Gefangenen, nackt, auf die Knie herabgesunken, mit dem Gesicht zur Wand, demonstrierten schließlich den Sieg der staatlichen Autorität über den Aufstand der Delinquenz. Nach fast 30 Stunden konnte der Direktor der Justizbehörde von São Paulo, Nagashi Furukawa, am 19. Februar abends endlich stolz verkünden, alle Haftanstalten befänden sich wieder unter Kontrolle.

Auslöser für die Revolte war die Verlegung von zehn Aktivisten der Gefangenenorganisation Erstes Kommando der Hauptstadt (PCC) in andere Haftanstalten. Polizei, Regierung und Medien bezeichnen die Organisation einhellig als »Gefängnismafia«. Um diese Version zu untermauern, wurde von insgesamt 7 000 Menschen gesprochen, welche die revoltierenden Häftlinge als Geiseln genommen haben sollen.

Doch nach der Erstürmung der Knäste weigerten sich viele der »Geiseln«, vor allem Mütter und Ehefrauen von Gefangenen, die Gefängnisse zu verlassen - aus Angst, die Sicherheitskräfte könnten wie 1992 ein Massaker unter den Häftlingen anrichten. Damals ermordete die Militärpolizei nach der Niederschlagung eines Aufstands 111 Gefangene. Und auch dieses Mal gibt es widersprüchliche Einschätzungen darüber, wer die 19 Toten und rund 70 Verletzten der jüngsten Revolte zu verantworten hat.

Die brasilianischen Behörden haben der PCC nun den Kampf angesagt. Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, will für die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in den Knästen gar einen Sonderfonds von umgerechnet 19 Millionen Euro »sofort freimachen«. Die Kritik von Marcos Rolim, dem Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses des brasilianischen Parlaments, zielt jedoch in eine andere Richtung. Er warf Justizminister José Gregori vor, für den Aufstand mitverantwortlich gewesen zu sein. Vor einem Jahr hatte der Ausschuss in einer Studie die Bedingungen in den Haftanstalten als »Neuerfindung der Hölle« bezeichnet.

Doch nach wie vor sei der Alltag in den Haftanstalten bestimmt durch chronische Überbelegung, »Prügelstrafen« und »Schusswechsel zwischen Insassen und Aufsehern, Mord, Hunger und Dreck«, beklagt Rolim. Das brasilianische Gefängnissystem verfügt insgesamt über knapp 100 000 Plätze. Doppelt so viele Menschen sind derzeit inhaftiert. Der Studie des Menschenrechtsausschusses zufolge hatten 80 Prozent während ihres Prozesses keine Verteidigung. Nach Angaben der katholischen Kirche kommt es im Schnitt alle 36 Stunden zu einem Aufstand gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen. So erhoben sich nur einen Tag nach der Niederschlagung der Rebellion von Carandiru erneut 800 Häftlinge in Pirajui, einem weiteren Gefängnis von São Paulo.

Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso lässt die Kritik unbeeindruckt. Das brasilianische Strafsystem sei »exzellent«, erklärte er vergangene Woche. Das trifft sogar für einen winzigen Teil der Inhaftierten zu. Denn ein spezielles Gesetz teilt Brasiliens Häftlinge in zwei Klassen. Wer einen Hochschulabschluss nachweisen kann, hat Anspruch auf eine Zelle in gesonderten Haftanstalten, die mit Radio und Fernsehen ausgestattet sind, und darf sich von Familienangehörigen versorgen lassen.