Prozess gegen Altnazi Brunner

Totgesagte leben sicher

Schon zum dritten Mal hat ein Pariser Gericht den früheren SS-Hauptsturmführer Alois Brunner verurteilt. Doch wieder war der 88jährige nicht da.

Alois Brunner braucht sich um seine Zukunft nicht zu sorgen. Denn der seit Jahrzehnten gesuchte Nazi-Verbrecher - dem ehemaligen SS-Hauptsturmführer wird der Tod von 148 000 zumeist jüdischen Menschen angelastet - dürfte vermutlich nie vor einem Gericht stehen. Zwar fand vergangene Woche in Paris schon der dritte Prozess gegen den 88jährigen statt, aber der Angeklagte glänzte durch Abwesenheit. Brunner soll sich, sofern er noch lebt, in Syrien aufhalten. 1995 wurde jedoch das Gerücht verbreitet, Brunner sei bereits gestorben. Beweise für seinen Tod gibt es bis heute allerdings keine.

In dem dreistündigen Verfahren verurteilte das Pariser Strafgericht Brunner zu lebenslanger Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er - kurz vor der Ankunft der Alliierten in Paris Ende Juli 1944 - noch eine Großrazzia in jüdischen Kinderheimen organisiert hatte. Am Morgen des 31. Juli soll er den Transport von 345 jüdischen Kindern und Jugendlichen nach Auschwitz und Bergen-Belsen angeordert haben, wo 284 von ihnen ermordet wurden.

Brunner war ab Januar 1941 Stellvertreter Adolf Eichmanns in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung der Gestapo, wo der Transport der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager organisiert wurde. In dieser Funktion trug er die Verantwortung für die Deportation von 148 000 Juden.

Zunächst agierte er in Wien und Berlin, später im griechischen Saloniki. 1943 kam Brunner ins besetzte Frankreich, wo er ab Juli 1943 das Durchgangslager Drancy bei Paris leitete. Unter seinem Kommando wurde die Durchführung der Deportationenen nochmal beschleunigt: Insgesamt 22 Transporte fanden unter seiner Ägide von Drancy nach Auschwitz statt. Brunner war der Hauptverantwortliche der SS in Paris und befehligte auch die Jagdkommandos, die versteckt lebende Juden aufspürten. Als Brunner Paris im August 1944 verlassen musste, hatte er 23 500 Juden aus Frankreich deportieren lassen.

Danach ging er in die Slowakei, um dort die Zerschlagung der jüdischen Untergrundbewegung zu betreiben. 12 000 Menschen ließ er nach Auschwitz verschleppen.

Nach Kriegsende lebte er unter falschem Namen noch zwei Jahre in Deutschland. Unterstützt wurde er dabei von seinem späteren Arbeitgeber, der Organisation Gehlen, dem Vorläufer des westdeutschen Geheimdienstes.

Als seine Identität aufzufliegen drohte, gelang ihm 1953 als Dr. Georg Fischer die Ausreise nach Ägypten - mit der großzügigen Unterstützung des Großmuftis von Kairo, des damaligen religiösen Oberhauptes des Landes.

Mitte der fünfziger Jahre war Brunner als Nahost-Experte der Organisation Gehlen am Aufbau des ägyptischen Geheimdienstes beteiligt. Später lebte er in Syrien, wo ihn Mitarbeiter des Spiegels im Jahr 1960 entdeckten. Brunner arbeitete als Leiter einer Import-Export-Firma, die arabische Länder mit Waffen und Militärgerät versorgte. Seit 1960 war er auch beim syrischen Geheimdienst als »Berater für Judenfragen« tätig. Zum Dank für die Hilfe hielt der damalige Präsident Hafiz El-Assad seine schützende Hand über ihn.

Syrien leugnete stets die Anwesenheit des Nazi-Kriegsverbrechers auf seinem Territorium: auch dann noch, als Serge Klarsfeld, Vertreter der Nebenklägervereinigung Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs (FFDJF), längst beweisen konnte, dass der ehemalige SS-Funktionär in Damaskus in unmittelbarer Umgebung von anderen Altnazis wie etwa dem Treblinka-Kommandanten Franz Stangl wohnte.

1985 fotografierte ein Mitarbeiter der deutschen Zeitschrift Bunte Brunner am Strand der syrischen Hafenstadt Lattakia. Er sei immer noch stolz darauf, »dieses Dreckszeug« - gemeint waren die jüdischen Opfer - »weggeschafft« zu haben, erklärte er damals dem Journalisten. Gleichzeitig verkündete er: »Israel wird mich nie bekommen.«

Fünf Jahre vor dem Interview hatte der israelische Geheimdienst Mossad ein Briefbombenattentat auf Brunner verübt. Seitdem fehlten ihm vier Finger der linken Hand, was auf dem Bild in der Bunten auch gut zu erkennen war. Dennoch kam das Bundeskriminalamt in einer Studie erst sieben Jahre später zu dem Schluss, dass es sich bei der Person um Brunner handeln könnte.

Bereits 1961 hatte der französische Geheimdienst SDECE einen Anschlag auf Brunner verübt. Grund für das Attentat waren allerdings nicht die Naziverbrechen Brunners, sondern seine Waffendeals mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN, die gegen die französische Kolonialherrschaft kämpfte. Man war auf Brunner aufmerksam geworden, weil Anfang der sechziger Jahre bekannt wurde, dass dieser die Entführung eines jüdischen Prominenten plane, um ihn gegen Adolf Eichmann auszutauschen. Der Mossad hatte Eichmann 1960 nach Israel entführt, wo er zwei Jahre später zum Tode verurteilt wurde.

Ebenfalls nicht wegen der Judendeportationen, sondern wegen der Kriegsverbrechen gegen die Résistance, verurteilten französische Gerichte ihn 1954 zweimal in Abwesenheit zum Tode. In der Nachkriegszeit war die politische Klasse um die »Versöhnung« der während der Besatzungszeit gespaltenen französischen Nation bemüht. Ganz Frankreich sollte angeblich die Résistance unterstützt haben, während es nur eine Handvoll mit dem Feind kollaborierender »Verräter« abzustrafen galt. Die antijüdischen Verfolgungen, die vor 1943 auch in Frankreich teilweise auf Verständnis stießen, thematisierte damals hingegen kaum jemand.

Erst in den letzten Jahren begann eine breitere Öffentlichkeit die französische Beteiligung, vor allem des Vichy-Regimes, an der Vernichtung der europäischen Juden zu diskutieren. 1997/98 wurde der erste Franzose - der Vichy-Beamte und spätere Pariser Polizeipräsident Maurice Papon - wegen »Verbrechen gegen die Menschheit« vor Gericht gestellt. Papon war für die Deportation von 1 700 Juden aus Bordeaux verantwortlich, wofür er zehn Jahren Gefängnis bekam. Zur Zeit wird über seine Freilassung aus Altersgründen nachgedacht.

Deutschland hat die Auslieferung Brunners nie ernsthaft betrieben. Zwar existiert ein entsprechender Antrag, aber gefahndet wird nicht besonders intensiv. Die zuständigen deutschen Staatsanwälte reagierten auch nicht, als das Simon-Wiesenthal-Zentrum und die New Yorker Anti-Defamation League anboten, Fahndungsplakate in der ganzen Welt zu verteilen.

Für den Dokumentarfilm »Die Akte B« über Alois Brunner befragten die Filmemacher Georg M. Hafner und Esther Schapira 1998 den für die Auslieferung zuständigen Oberstaatsanwalt Hans Eberhard Klein. Auf die Frage der Journalisten, warum es kein Fahndungsplakat gebe, antwortete er: »Es ist von mir veranlasst worden, dass der Referent dieses Verfahren sich mit den Kollegen in Köln abspricht, um ein Fahndungsplakat zur Auslage zu bringen. Wie weit das gediehen ist, weiß ich nicht.«

Doch ein Fahndungsplakat gibt es bis heute nicht, ebensowenig wie Anzeichen für ein größeres Engagement der deutschen Regierung in dieser Frage. Weder Außenminister Joseph Fischer noch Bundeskanzler Gerhard Schröder machten bei ihren jüngsten Staatsbesuchen in Syrien die Auslieferung Brunners zum Thema.