Gefährdetes Web-Kulturerbe

Mal schauen, was der Kaffee macht

Um ihre Kaffemaschine immer im Blick zu haben, installierten Mitarbeiter der Universität Cambridge eine Webcam. Inzwischen ist die Kanne ein Fossil aus der Frühzeit des Internet und soll verschwinden.

Wenn Internet-Archäologen eines Tages Listen mit dem Web-Kulturerbe zusammenstellen, dann wird eine gläserne Kaffeekanne wohl zum bedeutendsten Artefakt erklärt werden. Die in der Computersektion der britischen University of Cambridge stationierte Kanne war schließlich der erste Gegenstand, der jemals live ins World Wide Web übertragen wurde, Millionen Besucher haben sich seither zu jeder Tages- und Nachtzeit davon überzeugen können, ob der Behälter gerade voll oder leer ist.

Nun jedoch soll die historische Attraktion aus dem Netz verschwinden. Die Abteilung wird Ende des Jahres in ein neues Gebäude umziehen, da werde die ursprünglich nur zur Mitarbeiterinformation gedachte Liveübertragung des Kaffeestandes in dem veralteten Gerät überflüssig, begründeten die Wissenschaftler auf einer Pressekonferenz Mitte letzter Woche ihr Vorhaben.

Sie werde abgeschaltet, so die lapidare Begründung des Wissenschaftlers Dan Gordon vom Computer Science Department, »weil ganz einfach kein Bedarf mehr für sie existiert«. Der Mann, der als Nachfolger von Quentin Stafford-Fraser, dem Vater der Kaffeekannen-Übertragung, nun für den Pot zuständig ist, hat nur wenig Unrechtsbewusstsein. Lediglich aus sentimentalen Gründen habe man den eigentlich veralteten Apparat bisher noch am Leben gelassen, nun wolle man einfach nicht mehr und freue sich schon darauf, dass man sich »dann nicht mehr mit der Wartung des alten, fehleranfälligen Systems herumschlagen muss«. Dass man im neuen Gebäude vielleicht wieder eine Webcam installiert, will er zwar nicht ausschließen. Dann werde es sich aber um hochmoderne Übertragungstechnik handeln. Der Coffeepot in Farbe, womöglich inklusive ruckelfreier Live-Stream-Bilder von irgendwelchen Kaffeetrinkern - diese Vorstellung ist für die meisten Fans aber noch schwerer zu ertragen als die einfache Abschaltung.

2,4 Millionen Fans der Webpage könnten den Nerds die Vorfreude auf eine Hightech-Kaffeemaschine verderben. Weltweit wurde das geplante Sakrileg über Nachrichtenagenturen angekündigt, erste Protestpages und Inintiativen zur Rettung der Kanne werden schon vorbereitet.

Schließlich ist die Geschichte des Coffeepots auch die Geschichte des WWW. »Es war damals, in den dunklen Tagen des Jahres 1991, als das World Wide Web noch nicht mehr als ein kleiner Funke in Cerns Auge war«, beginnt der Erfinder der Coffee-Cam, Quentin Stafford-Fraser, die Geschichte der Kanne.

Die Wissenschaftler in der »Trojan Room« genannten Computersektion der Universität Cambridge teilten sich eine Kaffeemaschine, »die auf dem Korridor außerhalb lebte«. Besonders zentral war dieser Platz jedoch nicht, und so waren die »Members of the Coffee Club« es eines Tages einfach satt, den langen Weg dorthin anzutreten, um dann doch nur festzustellen, dass kein Kaffee mehr da war.

Eine kleine, damals nicht benutzte Kamera war hingegen sehr wohl da. Sie wurde in einem Winkel des Raums montiert, so dass sie die Kaffeekanne ständig im Blick hatte. Stafford-Fraser schrieb innerhalb eines Tages ein Client-Programm, das jedem Rechner, der an das interne Netzwerk angeschlossen war, den Zugriff auf das icon-große Bild erlaubte. Alle zwanzig Sekunden wurde das Image damals aktualisiert. »Das war okay, denn die Maschine arbeitete sehr langsam. Dass der Kaffee nur in Grautönen dargestellt wurde, war auch in Ordnung, denn so sah das Gebräu auch im richtigen Leben aus.«

Stafford-Fraser ist noch heute stolz auf die Installation der Coffeepot-Cam. »Das war wohl das Sinnvollste und Nützlichste, was ich getan habe, während ich an Computer-Networks arbeitete. Und bot auf Parties den wesentlich interessanteren Gesprächsstoff als z.B. ATM-Protokolle.«

Die Kanne wurde rasch ein Star, am 27. Januar 1992 hatte sie in der Fachzeitschrift Comm Week ihren ersten Medienauftritt. Programme wie XSandwichVan und XPrinterOutputTray entstanden in enger Anlehnung an die Kaffee-Überwachungstechnik. Und nach wenigen Monaten beschlossen Daniel Gordon und Martyn Johnson, den Cambridge Coffee weltweit im Web zu verbreiten.

Damals bestand das Internet ausschließlich aus Buchstaben, und nur wenige User hatten die Möglichkeit, ins Web vorzudringen, man begnügte sich mit Newsgroups, in denen von Fußballergebnissen bis zu philosophischen Themen alles nur Erdenkliche vorkam. Der Informationsgewinn erschien aber schon damals unglaublich, mit nur wenigen Steuerungsbefehlen konnte man Texte bekommen, Kontakt zu anderen Usern aufnehmen, Fragen stellen, Antworten finden und sich insgesamt bereits als Teil der Infoelite fühlen.

Der Trojan Room Coffeepot wurde zu dieser Zeit auch dazu benutzt, Internetfreaks von den noch erstaunlicheren Möglichkeiten des WWW zu überzeugen. »Stell dir vor, damit kann man jederzeit eine Kaffeemaschine an der Cambridge University beobachten«, warben die ersten weltweiten Webpioniere potenzielle User an. Und ernteten kein »Na und?«, sondern große Begeisterung. Die Kaffeemaschine wurde zum Symbol für internationale Vernetzung und erlangte rasch Kultstatus, auch wenn sie, wie die Times schrieb, »das Internet-Äquivalent dazu ist, Farbe beim Trocknen zuzusehen«.

Aber der Coffeepot versprach nicht mehr, als er zu halten bereit war. Anders als die unzähligen tabulosen Frauen oder kontaktfreudigen Gays, die inzwischen das Internet bevölkern und sich meist nur gegen Bares herzeigen, kriegt man die Glaskanne umsonst. Und immer so, wie sie gerade ist. Voll, halbvoll oder leer - niemals in ihrer immerhin neunjährigen Geschichte konnte man sehen, dass sich gerade jemand aus ihr bediente.

Langweilig war das nie. Vielleicht auch nur deswegen nicht, so Stafford-Frazer, »weil es zu diesem Zeitpunkt im Internet nichts anderes zu sehen gab«. Weil die Liveübertragung eines Alltagsgegenstandes jedoch ein derart großer Erfolg war, fand der Coffeepot rasch ebenso monothematisch arbeitende Nachahmer. Das zweitälteste im WWW übertragene Objekt ist folgerichtig ein Aquarium, 90 000 Besucher wollten zu Beginn der Übertragung täglich das Neueste aus dem Fischcontainer sehen, das aus meist willkürlich ausgewählten Bildern vor sich hin schwimmender Fische bestand. Netscape-User brauchen übrigens auch heute noch nur die Tastenkombination CTRL+ALT+F zu drücken, um direkt zur Webpage von Amazing Fish Com zu gelangen.

In der Folge entstanden weitere Internetpages, die Alltagssituationen und -bilder anboten. Bis hin zur Wohnzimmertapete, die vom Besitzer mit den Worten, »schaut euch meine sich niemals ändernde Tapete an«, angespriesen wird. »Die absolute Nutzlosigkeit - und die von vielen anderen ähnlichen Egotrips - sei es wohl, die letzlich zur Internet-Revolution führte«, meinte der Economist.

Die absolut nutzlose Kultkanne einmal im richtigen Leben zu sehen, gehört zu den unerfüllten Wünschen der meisten ihrer Fans. Ein US-amerikanisches Ehepaar rief sogar eigens das Fremdenverkehrsamt der Stadt Cambridge an und bat um eine Führung zum Coffeepot. »Sie wollten wohl sehen, wie er lebt und wie seine Umgebung ist«, kommentierte Stafford-Frazer, »sie hatten einen sehr weiten Weg auf sich genommen, bloß um eine alte Kanne zu sehen.« Aus der sie nicht einmal einen Schluck angeboten bekamen, denn sie durften sie nicht besuchen, wie die Legende weiß.

Möglicherweise deswegen, so argwöhnen die Verschwörungstheoretiker unter den Coffeepot-Fans, weil die Wissenschaftler etwas zu verbergen haben. Wahrscheinlich sei die Kanne nur noch eine komplizierte Steuerungsvorrichtung für eine hypermoderne Kaffeemaschine, die mittels Infrarot-Schnittstelle mehrere Sorten Capuccino, Mokka, Latte und Espresso auszuspucken in der Lage ist, befürchten einige. Andere fragen sich, ob das schrecklich aussehende Gebräu, das nach wie vor lediglich schwarz-weiß dargestellt wird, tatsächlich Kaffee sein kann oder ob es sich nicht eher um eine Ersatzflüssigkeit handelt. Und wieso trinken die britischen Wissenschaftler eigentlich nicht, wie man es von ihnen erwarten könnte, Tee?

Alle diese Fragen werden wohl in den nächsten Monaten geklärt werden, denn mit einer einzigen Pressekonferenz werden die Trojaner nicht davonkommen. Das ist auch ihnen klar, obwohl Stafford-Fraser noch Ende letzter Woche behauptete, man habe nur wenige Protestbriefe und Mails gegen die Abschaltung erhalten. Lediglich vor Interviewanfragen könne er sich kaum noch retten, musste der Wissenschaftler auf Nachfrage zugeben. Dass er schnell hinzufügte, bei der derzeitigen Kanne handele es sich sowieso nicht mehr um das Original aus dem Jahr 1992, ändert für die Fans nichts am Skandal an sich. Der im Internet zu besichtigende Kaffee wird schließlich immer noch in der damals 40 Pfund teuren Original-Maschine produziert. Dass die dazugehörige Kanne seither mehrmals zu Bruch gegangen sein soll, kann Stafford-Fraser zudem nicht beweisen. Selbstverständlich ist keiner dieser Unglücksfälle live übertragen worden.

www.cl.cam.ac.uk