»Traffic«

Die vielen Wahrheiten des Cinema Variety

Die Filmerzählung »Traffic« ist so unübersichtlich organisiert wie der Drogenhandel.

Eine schöne Vorstellung: Dass ein Film nicht nur mit dem Zuschauer, sondern auch mit bereits existierenden Filmen kommuniziert. Es gibt wenige Filme und Filmemacher, die sich dafür interessieren, was es vor ihnen gegeben hat, und in der Auseinandersetzung damit ihren Ort als Erzähler im Heute suchen. Steven Soderbergh scheint einer von ihnen zu sein. »Traffic« erinnert in mancher Hinsicht an bestimmte amerikanische Filme der Siebziger: an »Bullit«, »The Getaway«, »The French Connection«, »The Conversation«, an das Unbearbeitete, Lakonische, die Missachtung von »malerischem« Licht und »schönen« Bildern, die Aufmerksamkeit für vorgefundene Segmente der Wirklichkeit und der Versuch, diese mit fiktionalen Genre-Mustern kurzzuschließen.

Die Geschichte von »Traffic« zu erzählen, hat wenig Sinn. Eine Geschichte will immer irgendwo hin, »Traffic« beschreibt nur einen Zustand. Der Film bezieht nicht einmal Position gegen Drogen. Wenn er sich überhaupt gegen etwas wendet, dann ist es nicht der Konsum von Kokain oder Crack, sondern der Missbrauch der Metapher »Krieg« im »Kampf« gegen die Drogen. Es geht also um das Wort, um Sprache.

Auf einer anderen Ebene aber geht es in »Traffic« darum zu erzählen, wie es dazu kam, dass auf einem Baseballfeld in Tijuana/Mexiko eine Flutlichtanlage installiert wurde. Dass es dazu kam, beschreibt der Film als ein Wunder. Das Wunder von Tijuana. Die Geschichte zweier mexikanischer Polizisten, die versuchen, in einem korrupten System nicht korrupt zu sein, die Geschichte vom Drogenbeauftragten, dessen Tochter süchtig wird, die Geschichte von der verwöhnten Ehefrau eines Bauunternehmers, die sich in eine knallharte Drogenzarin verwandelt, und die Geschichte zweier DEA-Agenten und eines Zwischendealers, die erst aufeinander schießen und dann füreinander sterben, sind im Grunde Bewegungen, die sich gegenseitig wieder aufheben. Schön erfundene Antagonismen, dialektische Ausschmückungen. Das, wofür wir ins Kino gehen.

»Traffic« ist also wie schon die US-Produktionen »Short Cuts«, »Go«, »Magnolia«, »Pulp Fiction« ein episodisch strukturierter Film. Mehrere Geschichten laufen nebeneinander her, und zuweilen kommt es zu Überschneidungen. Die Helden der einen Geschichte bringen im Drei-Sterne-Restaurant als Kellner den Helden der anderen Geschichte die Speisekarte an den Tisch. Das Bild einer Gesellschaft wird erzeugt. Aber die Stories verknoten sich nicht notwendigerweise zu einem dramatischen Finale. Es gibt keine zentrale Figur, deren Geschichte erzählt wird, nicht einmal ein Subjekt, aus dessen Perspektive erzählt wird.

Dazu kommt bei »Traffic« das Nebeneinander von Stars (Michael Douglas), ehemaligen Stars (Albert Finney), Stars aus nicht-amerikanischen Zusammenhängen (Tomas Milian), weniger bekannten Darstellern und Laien. »Als wir an der Grenze waren, haben sie vor unseren Augen auf der Suche nach Drogen Autos auseinandergenommen. Wir filmten die Hunde und die Beamten, während die Experten Michael Douglas ihre Informationen zukommen ließen. Alles war improvisiert, gefilmt im Stil einer Dokumentation. Danach haben wir dann ein paar der geskripteten Passagen eingearbeitet«, beschreibt Soderbergh das Zustandekommen einer Szene.

Die Besetzung der Rolle des mexikanischen Generals Arturo Salazar mit Tomas Milian, einem in Kuba geborenen, im New Yorker Actors-Studio ausgebildeten und in Italo-Western bekannt gewordenen Schauspieler, weist über die Anforderungen der Story hinaus. Indem er einen Star seiner ikonografischen Bedeutung entsprechend einsetzt, zeigt Soderbergh Sinn für gebrochenene dokumentarische Segmente. Schon in der »wahren« Geschichte »Erin Brockovich« servierte die wirkliche Erin Brockovich der Brockovich-Darstellerin Julia Roberts einen Hamburger, und die authentischen Richter sprachen ihr Urteil über Pacific Gas & Electric noch einmal in die Kamera des Hollywoodfilms. Roland Barthes spricht im Zusammenhang mit den realistischen Beschreibungen Gustave Flauberts von einem »effet de réel«. Ein »Realitätseffekt«, der eines aufmerksamen Blickes bedarf und etwas anderes ist als der Kameraschwindel in den dänischen Dogmafilmen.

Die meisten parzellierten Filmerzählungen im Stil von »Short Cuts« spielen in der zersiedelten Stadtlandschaft von Los Angeles, und so wie in diesen L.A.-Filmen die Highways und Straßen die Erzählungen strukturieren, organisiert in »Traffic« der Handel mit Kokain die Dramaturgie. Die Schauplätze des Filmes liegen über den halben amerikanischen Kontinent verstreut, sind aber so wenig emblematisch gefilmt, dass sie kaum zu lokalisieren sind. Damit der Zuschauer bei den schnellen Schaltungen zwischen den Orten und Geschichten den Überblick nicht verliert, arbeitet Soderbergh mit Farbfiltern und ordnet einzelnen Schauplätzen bestimmte Farben zu. Es gibt kaum Establishing Shots, kaum Orientierung stiftende Einführungen in die Orte des Geschehens. Von Washington sieht man fast nur Innenräume. Das Kapitol ist nur nur einmal kurz in der Unschärfe zu sehen. Cincinatti, wo die Familie von Richter Wakefield lebt, kommt meist durch einige heruntergekommene Straßen und Häuser, in denen gedealt wird, und durch eine Auffahrt mit Blumenrabatten in einem Vorort ins Bild.

Die US-mexikanische Grenze ist einer der wenigen Orte, die etwas konkreter gezeigt werden. Diese Grenze ist ein Nicht-Ort. Ein Übergang, den ein unablässiger traffic von Autos, Menschen und Drogen passiert. Ein paar Mal begleitet die Kamera jemanden aus den USA nach Mexiko und schwenkt beim Gang über die Straße nur ein wenig weiter nach links, um noch jemanden einzufangen, mit dem es zurück in die USA geht.

Es gibt tatsächlich kein einziges »schönes« Bild in diesem Film, also kein Bild, das den emblematischen Stolz und die Selbstgenügsamkeit eines gut komponierten und fotografierten Motivs hätte. Der Film ist fast durchweg aus der Hand bzw. präziser: von der Schulter fotografiert worden, überwiegend von Soderbergh selbst. Aber die leichte Vibration des Bildes ist hier etwas gänzlich anderes als das eitle Wackeln der Aufnahmen in vielen Dogmafilmen.

Und es hat auch wenig zu tun mit der schutzlosen Neugier des Bildes in den Dokumentarfilmen des Cinema Vérité und erst recht nichts mit dem cleveren Dokumentar-Manierismus in Fernsehserien wie »NYPD-Blue« oder »Emergency Room« und schon gar nichts mit den Werbespots der Hypovereinsbank. Es gibt weder einen abgebrochenen Schwenk, noch eine Unschärfe oder eine andere Geste des Authentischen. Der Film tut nicht so, als sei das die Wirklichkeit, als ereigne sie sich in diesem Moment. Das leichte Schwanken und Zittern der Bilder in »Traffic« löst die vertrauten Koordinaten auf, bringt sie, manchmal kaum merklich, ins Schwimmen.

»Traffic« zeigt eine Welt, der der sichere Grund fehlt. Für Soderbergh ist Realismus ein Stil, ein artifizielles System aus Zeichen. Die Bewegungen der Kamera haben immer ein genaues Wissen um die Inszenierung, um die Bewegungen und Blicke der Schauspieler und um den Gang der Geschichte. Der präzisere Begriff wäre: Cinema Variety.

Ein Bild gibt es dann aber doch, das dem Zuschauer den Atem raubt: Die Träne auf dem Gesicht von Wakefields Tochter Caroline, wenn sie das erste Mal Crack raucht. In dieser Träne ist das Glück und die Ekstase des Rauschs und gleichzeitig das Wissen und die Trauer über die ewige Verdammnis Carolines sichtbar. Jetzt ist es entschieden, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Und die Welt spiegelt sich auf der gewölbten Oberfläche der Träne.

»Traffic«, USA 2000. R: Steven Soderbergh, B: Stephen Gaghan. Start: 5. April