Nach den Wahlen in Wien

Rotes Wien, fetter Staat

Der aufhaltsame Abstieg des Jörg Haider. Ein Nachwort zu den Wahlen in Wien.

Die Wiener Wahl sei ein Votum gegen den Antisemitismus. Stolz sagen das Bürgermeister, führende Sozialdemokraten, Grüne und liberal gestimmte Medien. Sie wollen es so sehen und verkünden es überall, nicht zuletzt um den etwas ramponierten internationalen Ruf der Stadt wiederherzustellen.

Vor der Wahl las man es anders. Da hielten sich nämlich die jetzigen Wahlsieger, insbesondere die Wiener Sozialdemokraten, auffällig zurück, als Jörg Haider den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, offen attackierte, ebenso wie bereits einige Zeit davor, als er mit dem Namen des amerikanischen Wahlkampfhelfers der SPÖ antisemitisch gespielt hatte.

Erst als das US-Außenamt Einspruch erhob, begann Haiders Mobilisierung des Antisemitismus allmählich Unmut bei seinen einheimischen politischen Gegnern hervorzurufen. Griff der eine an, um Wähler zu gewinnen, hielten sich die anderen zurück, um keine Wähler zu verlieren.

Die Wiener Wahl war vor allem ein Votum gegen den schlanken Staat. Auf der Ebene der Länder und Gemeinden lässt sich dieses Konzept auch am schwersten durchsetzen. Hier behauptet der massige Souverän, der korpulente Staat, wie ihn vor allem die Sozialdemokratie weiterhin programmatisch anbietet, hartnäckig das Feld.

Vor allem aber gilt das für Wien, wo die Verwaltung des österreichischen Staates beheimatet ist, und diese Beamten und Gemeindebediensteten - einschließlich der Studenten, die es werden wollen, und der vielen Pensionisten, die es gewesen sind - haben in erster Linie den Abbau des Apparats zu fürchten, den die derzeitige Regierung überfallartig unter dem nietzscheanischen Motto speed kills betreibt.

Sie sind es, die sich nun besonders mit dem Bürgermeister Michael Häupl identifizieren, dem es sehr überzeugend gelungen ist, als volkstümliche Gegenfigur des schlanken Staats aufzutreten. Der SPÖ, der das sonst auf Bundesebene gar nicht mehr gelingen will, konnte auf dieser Grundlage und mit dieser Charaktermaske eine unerwartete Mobilisierung ihres Wählerpotenzials trotz einer insgesamt geringen Wahlbeteiligung erreichen.

Als Erbe einer langen Tradition, die zuletzt in der Ära von Bruno Kreisky hoch im Kurs stand, ist die österreichische Bürokratie mittlerweile in Verruf geraten und gibt geradezu ein Feindbild ab, auf das sich die Regierung im Namen eines konkurrenzfähigen nationalen Wettbewerbsstaats mit der übrigen Bevölkerung einzuschwören trachtet.

Es ist im Unterschied zu den Ausländern und den Juden ein Feindbild, das gewissermaßen als Eigenes akzeptiert wird und darum für die Betroffenen ungefährlich bleibt, solange sie nicht mit dem Fremden, den Ausländern und den Juden, in Zusammenhang gebracht werden, etwa unter dem Motto: »Die Sozialdemokraten haben die Nation an die jüdischen Spekulanten verkauft und für die Ausländer die Grenzen geöffnet.« Genau in diese Richtung versuchen die Freiheitlichen, so weit es derzeit geht, zu wirken, um ihren politischen Gegner zu denunzieren.

Das Wahlergebnis in Wien leitet zugleich eine Phase der Polarisierung zwischen den Bundesländern und der Metropole ein, wie man sie bereits aus den zwanziger Jahren kennt, als von der Provinz aus gegen Wien, die rote, die »verjudete« Stadt, gehetzt wurde. Aber die Provinz findet im Inneren der Metropole und selbst im Beamtenapparat einige Bündnispartner. So erbringt die antibürokratische Perspektive der neuen Regierung überraschenderweise auch die Zustimmung oder zumindest die Tolerierung von Seiten eines bestimmten Typus des gesellschaftlich etablierten und staatlich alimentierten Intellektuellen.

Dieser ursprünglich linksorientierte Typus könnte als postjosephinischer Beamter bezeichnet werden. Er unterscheidet sich von seinen Kollegen, weil er innerlich nicht damit fertig wird, dass er der Sozialdemokratie alles verdankt, was er geworden ist - den Gewinn seines guten Postens ebenso wie den Verlust seines kritischen Vermögens.

Den Selbsthass lässt dieser Beamte nun an der SPÖ aus und ähnelt darin dem Mob, der in den Juden personifiziert, was er sich selbst versagen muss, um Staat und Kapital zu bejahen. Während derjenige, der mit diesem Selbsthass reflektierter umgehen kann - der psychoanalytisch aufgeklärte Postjosephiner -, einfach nur auf Distanz zur SPÖ geht und die Grünen favorisiert.

Auch hat sich in dem Jahr, das seit der Regierungsbeteiligung der FPÖ vergangen ist, gezeigt, dass ein neuartiges Bündnis zwischen Elite und Mob möglich ist, zwischen dieser urbanen Intelligenz, die ihre ganze Weltläufigkeit den Reformen Bruno Kreiskys verdankt, dem sie aber umgekehrt ihre eigene Anpassung nicht verzeihen kann, und jenem antisemitischen und rassistischen Mob, der sich in der Provinz zu Hause fühlt und der »den Juden« Kreisky immer gehasst hat.

Die noch immer gewaltige Beamtenburg Wien hat sich zwar gegenüber solchen inneren und äußeren Feinden zu behaupten gewusst. Hätte aber nicht die Kronenzeitung, die größte österreichische Tageszeitung, ihr Wohlwollen gegenüber Häupl deutlich hörbar bekundet, die ganze urban-bürokratische Grundlage des Wahlerfolgs samt der Häuplschen Charaktermaske wäre vermutlich nicht zur Wirkung gekommen.

Diese Zeitung ist nun wiederum bekannt für permanente rassistische Attacken und unverhohlene antisemitische Wendungen. Die sich selbst als Gegner der Antisemiten sehen, können ohne die Unterstützung von Antisemiten nicht reüssieren. So dreht sich alles immerfort im Kreis der Volksgemeinschaft: Bald führt der antisemitische Herr, bald die philosemitische Dame.

Dabei zeichnet sich insgesamt - hier wie auch in Deutschland - eine Aufspaltung der Identifikation mit dem Staat in regionale und nationale Ebenen ab. Die Landesfürsten gewinnen an Vertrauen, verkörpern weiterhin einen sorgenden, sich um das Wohlergehen der Bürger bemühenden Staat, während die Bundesregierung, die den schlanken Staat eben durchzusetzen und den Sozialstaat abzubauen hat, an Vertrauen verliert und gewisse materielle Grundlagen nationaler Identität preisgeben muss.

Dieser eigentümliche innere Riss kann fast nur durch die Beschwörung eines zwar schlanken, doch umso stärkeren Staats ausgefüllt werden, d.h. durch den Ausbau des Polizei- und Sicherheitsapparats, vor allem aber durch die Mobilisierung rassistischer und antisemitischer Projektionen. Eben wurden mit den Stimmen der Regierungsparteien die neuen österreichischen Betäubungsmittelgesetze verabschiedet. Für Drogendealer ist nun lebenslange Haft vorgesehen.

Genau hier versucht Haider auch anzusetzen, wenn er in letzter Zeit immer stärker das antisemitische Ressentiment in der Bevölkerung anspricht - sei es, indem er Häupls Wahlkampfhelfer von der »Ostküste« spielerisch identifiziert und dafür antisemitische Heiterkeit im Saal erntet; sei es, indem er den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde direkt antisemitisch diffamiert.

Die Strategie, so die Durchsetzung des schlanken Staats durch die neue Regierung abzufedern, um weiterhin bei Wahlen zu punkten, ist vorerst nicht aufgegangen. Haider und seine Partei befinden sich augenblicklich in einem Dilemma. Um weiterhin regieren zu können, müssen sie sich an gewisse in Europa geltende, selbst von Deutschland anerkannte Spielregeln der political correctness halten und können nicht, wie sie wollen und wie viele ihrer Sympathisanten und möglichen Wähler es wünschen.

So muss sich Haider zu sehr bremsen, und eine Mobilisierung, die ausreichend wäre, das Sparprogramm auszugleichen, gelingt nicht wirklich. Die Anhänger entschließen sich kurzfristig, zur SPÖ zurückzukehren, zu der Partei, die wenigstens einen fülligen Staat und Alimentierung verspricht. Oder sie bleiben am Wahltag zu Hause; die meisten der verlorenen Stimmen gehen sogar aufs Konto der Nichtwähler, die Wahlbeteiligung lag insgesamt knapp über 60 Prozent. Sie warten ab, bis irgendwann, in der entscheidenden Situation, diese political correctness nicht mehr ins Gewicht fällt.

Das Unterrichtsministerium, das von einer ÖVP-Politikerin geführt wird, bringt inzwischen eine Broschüre für alle Schulen heraus, die als eine Art Wörterbuch der political correctness fungiert. Die jungen Österreicher und Österreicherinnen sollen unterscheiden lernen, was man sagen darf und was nicht, was also in der Öffentlichkeit besser zu vermeiden wäre und im Privaten zu pflegen ist. Man sagt nicht: Straflager, sondern Vernichtungslager; nicht: jüdische Rasse, sondern jüdische Mitbürger etc. Da in diesem Land wie vielleicht nirgendwo sonst die political correctness als tote Sprache verstanden werden muss, dürfte sich die neue Broschüre als das wahre Wörterbuch des Österreichischen behaupten.