Listen und Ranking in Literatur und Pop

Beim Sex mit Babystimme reden

Alle lieben Listen und Ranking - das Internet, die Buchhaltung und die Popliteratur. Die Zentralmetapher des Generationenromans ist die Hitparade.

Wenn gefragt wird, was eigentlich die Popliteratur und den verwandten Generationenroman ausmacht, kommt man schnell auf die Oberflächlichkeit und den unkomplizierten reportagehaften Stil des Textes, auf den Konsumismus, dem er anhängt, und seine politische Besinnungslosigkeit, darauf, dass die Autoren jung sind und über Musik, Clubs und Liebe schreiben.

Man könnte aber auch sagen, dass es in der Popliteratur ordentlich, übersichtlich und systematisch zugeht. Wobei diese Systematik nicht besonders kompliziert angelegt ist. Sie funktioniert im Prinzip ähnlich wie eine Liste. Endlose Aufzählungen (von Namen, Ereignissen, Konsumgütern) ermöglichen, völlig disparate Dinge zusammenzubringen und erzählerisch zu integrieren, notfalls auch ohne irgendwelche Sinnrelationen herzustellen. Die Liste verlangt ja gerade nach Setzungen, Behauptungen, pointierten Statements, die keiner Begründung bedürfen.

Die Liste oder allgemeiner: die Aufzählung, strukturiert einen bestimmten Typ von Gegenwartstexten. Insbesondere der Generationenroman und der Popjournalismus bedient sich der Liste. Die Texte sagen vor allem, was beispielsweise die siebziger Jahre waren, Schlaghosen, Landkommunen, T. Rex usw., aber nicht unbedingt, wie sie waren und wie alles miteinander zusammenhängt.

Vielleicht könnte man sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Liste - die Aufzählung, die Reihung, die Serie, die Parataxe - als ein strukturelles Prinzip nicht nur der Gegenwartsliteratur, sondern gleich der ganzen Gegenwart bezeichnen.

Listen helfen, den Alltag zu organisieren. Sie ordnen das Chaos und halten die Dinge fest. Auch das Internet ist eine Sortiermaschine mit einem gigantischen Ausstoß von Literaturlisten, Warenkatalogen und chronologisch oder tabellarisch geordnetem Unsinn.

»Jeder hat so seine private Liste, und diejenigen anderer Leute wirken rasch eitel und sentimental«, sagt Julian Barnes. Private Listen funktionieren nach einem bestimmten Ordnungskriterium, aber man erkennt nicht immer sofort, welches das ist; es ergibt sich eine Struktur, aber sie wird immer wieder durchbrochen. Aber darum geht es ja: Genau dieses Nebeneinander von Wichtigem und Unwichtigem, von »Glenn Gould« und »Käse« (so Roland Barthes, als er gefragt wurde, was er besonders mag), von irritierenden und und plausiblen Nennungen macht den Reiz von Favoriten-Listen aus.

Das bisschen Alltagspoesie, das sich aus den Kaffee-Cola-Kittekat-Notizen, die jeder so vor dem Einkauf fertigt, ziehen lässt, ist für die sagenhafte Karriere der Liste in der Gegenwartsliteratur natürlich nicht verantwortlich. Entscheidend daran mitgewirkt haben jedoch die Hitparade, die Charts, die Top Ten. Die Charts sind das große Geschmacks-Stil-Zeit-und Polit-Barometer, dessen Messungen ergeben, woran geglaubt wird und wonach sich gesehnt wird. Ist meine Musik noch drin? fragt, wer dazugehören will. Ist meine Musik schon drin? fragt, wer das ablehnt.

Am konsequentesten geht Nick Hornby in »High Fidelity« vor, die Charts sind hier Metapher und Motiv, sie strukturieren die Erinnerungen und organisieren den Text. Am Anfang heißt es: »Die ewigen Top Five meiner unvergesslichsten Trennungen für die einsame Insel in chronologischer Reihenfolge: 1. Alison Ashworth / 2. Penny Hardwick / 3. Jackie Allen / 4. Sarah Kendrew.«

Anschließend werden die verschiedenen Lebensphasen anhand der jeweiligen Freundinnen und Musiktitel kapitelweise abgearbeitet. Dem unerbittlichen, man könnte auch sagen: neoliberalen Konkurrenz-System der Charts steht bei Hornby eine demokratische Ordnung der Dinge gegenüber, nämlich das Prinzip der privaten Plattensammlung, mit einer Systematik und mit Kritierien, die immer nur vorläufig sind.

Weniger offenkundig ist die Herkunft der Listen aus dem Musikbusiness bei Lydia Lunch und Julie Burchill. Aber es versteht sich von selbst, dass beide Autorinnen vom In- and Out-Prinzip des Pop kontaminiert sind. Ihre Listen affirmieren lustvoll die Grausamkeit, die der Klassifikation innewohnt, und zwar insbesondere der Klassifizierung nach Geschlechtern. Wenn Männer bluten würden, schreibt Lydia Lunch, müssten sie keine Kriege führen, denn dann wüssten sie, »was die wahre Hölle ist«, und zwar: »Karzinome / Condylomata / Chalmydien // Vaginitis// Trichonosis/ Pappiloma / Endometriosis // Dysplasie / Zystis / Fibroide Tumore / Genitalwarzen/ Herpes«.

Sehr viel amüsanter geht es in der Hölle der Julie Burchill zu. Eine ihrer Listen zählt Dinge auf, die »mir einmal als gute Idee erschienen sind, von denen ich aber mittlerweile abgekommen bin: Meine Ehemänner /Rotchina / Fransenschnitte/ Mit Kugelschreiber auf dem Arm kritzeln / Cunnilingus / Latin Hustle /Beim Sex mit Babystimme reden / Stehlen / 'Absolut' sagen / 'Für immer und ewig' / Fremdkörper / Kleine Magazine fördern / Sex im Swimmingpool bei Tageslicht, während von drei Seiten Nachbarn zuschauen / (...) 569 Pfund für einen Rucksack von Dolce e Gabbana ausgeben, der bei weitem zu jugendlich für einen ist, sodass man ihn Charlotte R. schenken muss«.

Burchill, Hornby u.a. nobilitieren die Form der Aufzählung, indem sie die Nennungen - wie im Gedicht - untereinander schreiben und der Liste damit auch graphisch Gestalt geben. Auch der französische Autor Frédéric Beigbeder, der mit »99 Francs« die Schnittmenge zwischen Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq zu bilden versucht, ordnet auf diese Weise seine Besitztümer und füllt mit diesen Gedichten spielend Seite um Seite: »ein Philips Flachbildschirm/ ungefähr tausend CDs und DVDs/ drei Cashmeremäntel von Hermès / fünf Anzüge von Dolce und Gabbana / einen BMW Z3 M / Sumo von Helmut Newton (...)«.

Anders Bret Easton Ellis. Listen im engeren Sinne tauchen in seinen Texten nicht auf, dennoch ist nahezu jeder Satz als solche organisiert. Seine endlosen Reihungen sind Warenlisten mit vorangestelltem Subjekt und Prädikat. »Ich trage«, heißt es - und dann folgt die Liste, »einen extravaganten Leinenanzug mit Bundfaltenhose, ein Baumwollhemd, eine gepunktete Seidenkrawatte, alles von Valentino Couture, und Lederschuhe mit gerader, perforierter Kappe von Allen-Edmonds.«

Seine Warenlager-Sätze erinnern zum einen an die schier endlosen Aufzählungen von Möbelstücken, Speisen und Kleidern im Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts, zum anderen an die ebenfalls mit den Charts verwandten In-Out-Listen der Lifestyle-Magazine. Auch die Makrostruktur von »American Psycho« wiederholt das serielle Prinzip. Auf einen Restaurantbesuch folgt ein Mord folgt ein Restaurantbesuch folgt ein Mord.

Als das popliterarische Großereignis des deutschen Bücherherbsts gilt schon jetzt das Romandebüt der Journalistin Rebecca Casati. Wegen der Rekordsumme, die der Verlag vorgeschossen hat. Casati schreibt über einen gelangweilten jungen Mann, der es darauf angelegt hat, Frauen nach Vornamen geordnet in der Reihefolge des Alphabets ins Bett kriegen. Eine ganz ähnliche Versuchsanordnung zum Thema serielle Monogamie erfand Tanja Dückers für ihre Erzählung »Brazil«. Dort führt die Ich-Erzählerin seit ihrem 15. Lebensjahr ordentlich Buch über ihre männlichen Eroberungen. Angekommen auf Platz Nummer 99, kommt sie ins Grübeln.

Listen fordern Zustimmung ein und heftigen Widerspruch heraus, markieren Einschlüsse und Ausschlüsse. Nur wenige Begriffe genügen, um ein soziales und ästhetisches Milieu zu konturieren, dem man sich zugehörig fühlen kann oder nicht. Die parataktische Textordnung, die die Dinge nebeneinander stellt, statt sie hypotaktisch zueinander ins Verhältnis zu setzen, ist die Regierungsform von Generationen, die kein Woodstock hatten, aber hundert Discos und die tausend Kekssorten probieren mussten und dabei viel erlebten.