Überwachung und Strafe

Polizeistaatliche Machtdemonstration und Märtyrerkult prägen den Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei.

Am 19. Dezember 2000, fast genau ein Jahr nach der in Helsinki eröffneten Perspektive der Aufnahme in die EU, hat der türkische Staat »auf den Knopf gedrückt«, wie es Ministerpräsident Ecevit formulierte. Mit Panzern und Bulldozern stürmten die Soldaten und Polizisten 18 Gefängnisse, in denen sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerer Zeit viele Gefangene im Hungerstreik gegen die Einführung neuer Isolationsgefängnisse befanden. Der offizielle Titel der Aktion verwies auf den zynischen Vorwand: »Operation zur Rettung von Leben.« Das Ergebnis war ein staatskriminelles Massaker: Mindestens 29 Häftlinge und zwei Soldaten wurden getötet, Unzählige schwer verletzt, in Krankenhäuser verlegt und an Betten gekettet. Trotz der Polizeiaktion setzen Hunderte Inhaftierte in verschiedenen Gefängnissen ihre Proteste bis heute fort.

Seit Mitte Oktober vergangenen Jahres hatten etwa 2 000 politische Gefangene einen unbefristeten Hungerstreik begonnen, davon ca. 240 ein so genanntes Todesfasten, um die Verlegung in die neuen F-Typ-lsolationsknäste zu verhindern. Die Forderungen der Hungerstreikenden waren unter anderem die Schließung dieser Gefängnisse, die Aufhebung der die Rechte der Verteidigung reduzierenden Erlasse vom Januar 2000, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Bestrafung der Folterer und die ärztliche Behandlung erkrankter Gefangener.

Die elf Gefängnisse vom Typ F wurden von der türkischen Regierung in Auftrag gegeben, um die herkömmlichen Schlaf- und Aufenthaltssäle zu ersetzen, in denen bis zu 60 und mehr Gefangene in einem Kollektiv leben. Die Gefangenen sollten nunmehr in Isolationszellen für eine bzw. drei Personen untergebracht werden, da nur so ein »Hochsicherheitsgefängnis« geschaffen werden könne, erklärte das Justizministerium.

Tatsächlich überspielt der Staat mit dieser Scheinlegitimation die von seiner eigenen Gefängnispolitik geschaffenen Probleme des Gefängnissystems. Nach allen bisher geäußerten unabhängigen Expertenmeinungen bleibt das türkische Gefängnissystem aus vielfältigen Gründen weit hinter intenationalen Standards zurück. Es gibt bauliche Mängel, die Gefangenen haben nicht nur keine Rechte, auch ihre Lebenssicherheit wird nicht gewährleistet; es fehlen zudem Transparenz und Kontrolle durch Organisationen der Zivilgesellschaft.

Diese Probleme wurden und werden vom Staat systematisch vertuscht. Stattdessen wird die Lösung in der Errichtung von Hochsicherheitsgefängnissen gesehen, deren Vorbilder Stammheim in Deutschland und die Sicherheitstrakte in den USA bilden, wie türkische Verantwortliche zugeben. Ohne sich um die Folgen der Isolationszellen von Stammheim und der US-Gefängnispolitik zu scheren, setzte die türkische Gefängnispolitik auf die Vorstellung total isolierter Gefangener, auf die nur noch der Staat Zugriff haben sollte, einschließlich der Möglichkeit der totalen Überwachung.

Die Gefängnisse vom Typ F ähneln dem Panoptikon, das der französische Philosoph Michel Foucault in seinem Buch »Überwachen und Strafen« so glänzend darstellte. Dessen Prinzipien setzen sich zusammen aus den Kontrollmechanismen der »Disziplinargesellschaft«. Um in ein Gefängnis des neuen Typs gelangen zu können, müssen die Fingerabdrücke der Besucher vom Computer erkannt werden.

Computergesteuert wird auch eine Durchsuchung des Körpers vorgenommen. In welchen Gängen das Wachpersonal an welchen Tagen Dienst hat, wird ebenfalls von Computern nach dem Zufallsprinzip bestimmt. Überwachungskameras gibt es an allen denkbaren Stellen. In den Höfen darf und kann auch kein Baum gepflanzt werden, da der Boden aus Beton besteht, der Fluchtversuche verhindern soll. Das entspricht dem, was man aus modernen Panoptikons wie Marion und Lexington in den USA, Stammheim in Deutschland, den berüchtigten H-Blocks in Großbritannien und von den Tirani in Italien kennt.

Dass die Einführung eines solchen Gefängnissystems heftige Reaktionen der Gefangenen hervorrufen würde, musste dem türkischen Staat klar sein, denn bereits die Einführung des Vorläufers vom Typ E wie z.B. in Eskisehir hatte zu Aktionen mit tödlichem Ausgang geführt. Doch wie damals wurden auch diesmal die Proteste der Gefangenen von den Verantwortlichen und in der Öffentlichkeit kaum beachtet.

Erst als klar wurde, dass wegen des Fastens bald die ersten Toten zu erwarten waren, versprach der Justizminister Anfang Dezember 2000, die Inbetriebnahme von Gefängnissen des Typs F vorerst auszusetzen. Zumindest solange, bis eine Konsensgruppe, die aus Mitgliedern der parlamentarischen Menschenrechtskommission und Vertretern bestimmter Berufsgruppen gebildet werden sollte, mit den politischen Gefangenen einen Kompromiss ausgehandelt hätte.

Die Gespräche wurden jedoch auf Wunsch des Justizministers bereits am 15. Dezember abrupt beendet. Erst nach der blutigen Gefängniserstürmung wurde klar, warum der Justizminister weitere Gespräche verhinderte: Der Innenminister gab bekannt, dass man sich auf die Aktion seit zehn Monaten vorbereitet hatte.

Daraus geht klar hervor, dass die Einrichtung der Konsensgruppe ein taktisches Manöver war, um zu demonstrieren, dass der Staat zu Gesprächen bereit sei. Da abzusehen war, dass die Hungerstreikenden den Vorschlägen des Staates nicht sofort zustimmen würden, konnten sie allein für die brutale Operation verantwortlich gemacht werden.

Die Entscheidung zur Erstürmung der Gefängnisse geht nicht zuletzt auf eine Polizeidemonstration im Dezember 2000 zurück, deren Parolen die politische Stimmung im Lande verschärften. Ausgelöst wurde der illegale Demonstrationszug von 3 000 Mitgliedern der Schnellen Eingreiftruppen quer durch Istanbul zum Gouverneurssitz von einem Anschlag auf ein Polizeifahrzeug, zu dem sich die maoistische TKP-ML bekannt haben soll. 14 Polizisten wurden verletzt, von denen zwei schließlich starben. Die demonstrierenden Polizisten konnten weder vom Polizeichef noch vom Gouverneur oder vom Innenminister beschwichtigt werden. Gleichzeitig kam es auch in anderen Städten zu Polizeidemonstrationen mit mehreren Tausend Beteiligten.

Dieser organisierte Auftritt und die gemeinsamen Interessen der Spezialeinheiten ist umso bemerkenswerter, als es in der Türkei keine Polizeigewerkschaft gibt. Beobachter sprachen - an das Osmanische Reich erinnernd - gar von einem neuen Janitscharenaufstand. In der Tat waren diese Demonstrationen die größten Unmutsäußerungen der Polizei in der türkischen Geschichte. Die Polizisten demonstrierten aber nicht nur für ihre Sicherheit und die Verbesserung ihrer ökonomischen Lage. Ihre Aufmärsche waren eine offene Drohung an die Adresse der demokratischen Kräfte sowie eine Warnung an die Regierung, das rigide Konzept des polizeilich-militärischen Sicherheitsstaates nicht durch Verhandlungen mit politischen Gefangenen aufzulockern.

Denn obwohl sich die Regierung in den vergangenen Jahren nicht zu einer Generalamnestie durchringen konnte, wurde immerhin ein »Gesetz zur Freilassung unter Bedingungen und zur Strafaussetzung« verabschiedet, durch das bisher etwa 30 000 Gefangene entlassen werden konnten. Dieses Gesetz ist als Rahsan-Amnestie bekannt geworden, weil es vor allem von Rahsan Ecevit, der Frau des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, vorangetrieben wurde.

Die nationalistischen Parolen der Polizisten zeigten unzweideutig, was sie davon hielten: »Regierung, steck dir die Amnestie in den Arsch«, »Rahsans Amnestie hat die Polizisten erschossen«, »Alles für's Vaterland« oder »Keine Verhandlungen mit den Verrätern.« Nicht nur durch solche Parolen wurde deutlich, wie groß der Einfluss der türkischen Faschisten innerhalb der Polizeikräfte noch immer ist.

Das Thema Gefängnisse in der Türkei wäre nicht annähernd vollständig behandelt, wenn ein anderer unangenehmer Aspekt keine Erwähnung fände: der Umgang der ML-Parteien und -Sekten mit den politischen Gefangenen und ihren Protestaktionen. Ihre so genannten Bestrafungsaktionen, bei denen sie Polizisten töten oder verletzen, um damit scheinbar das Todesfasten der politischen Gefangenen zu unterstützen, führen zur Reduktion politischer Auseinandersetzungen auf einen nicht enden wollenden bewaffneten Kampf.

Ein ebenfalls sehr problematischer Aspekt sind die Beziehungen der Gefangenen untereinander. Es gab und gibt strikte Hierarchien unter den Gefangenen. Nicht wenige Gefangene sind dem Willen der politischen Organisationen unterworfen, denen sie angehören. Diese Unterwerfung hat manchmal so erschreckende Ausmaße angenommen, dass der Gefängnisaufenthalt in manchen Gruppen zum einzigen Beweis der politischen Zuverlässigkeit geworden ist. Das Bewusstsein für soziale Emanzipation wird vielfach ersetzt durch Bekenntnisse zu Treue oder Mut. Im Dienste der Propaganda wird mit den im politischen Kampf »Gefallenen« ein lebensfeindlicher Totenkult betrieben. Kritik an diesen und anderen Praktiken führt in der Regel zum Ausschluss der Kritiker aus den Kommunen im Gefängnis.

Die riesigen Schlafsäle der bisherigen Gefängnistypen haben neben dem Vorzug eines kollektiven und solidarischen Lebens auch den Nachteil der Einschränkung jeglicher individuellen Freiheit. In Einzelfällen wurden Gefangene unter dem Vorwurf des Verrats sogar erstochen. In einigen Gefängnissen wurden Fernsehen, Radiohören oder Schreiben als »bürgerliche Gewohnheiten« verboten. Viele Gefangene leiden darunter, ihre sexuelle Identität nicht offenbaren zu dürfen. In manchen Entscheidungsgremien der Gefängniskommunen sind Beschlüsse gefasst worden, wonach Homosexuelle in den gemeinsamen Schlaf- und Aufenthaltssälen nichts zu suchen hätten.

Die Brutalität der Gefängnispolitik des türkischen Regimes kann kein Vorwand dafür sein, all diese selbstverschuldeten Züge der Grausamkeit in den Gefängnissen nicht zu diskutieren. Gerade jene, die sich sozialer Emanzipation verpflichtet fühlen, müssen endlich in einen Prozess der Reflexion eintreten, an dessen Anfang die Parole »Trotz der Massaker« ersetzt werden muss durch: »Stoppt die Massaker«. Die aktivistische Linke wird erkennen müssen, dass sie in der Nacht gegen die Nacht kämpft, dass die Gefängnisse nur die dunkle Seite einer Gesellschaft sind, die nicht mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen ist.

Gazi Caglar arbeitet als Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Uni Hannover.
Der redaktionell gekürzte Artikel erschien zuerst in den Blättern des iz3w, Nr. 252 (April 2001). www.iz3w.org