1. Mai in Berlin

Die Spur der Steine

So viel Sympathie gab es am 1. Mai für Steinewerfer schon lange nicht mehr. Das verdanken die Linken vor allem den Rechten.
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Fünfzigtausend Pflastersteine sollen nach Angaben der Berliner Zeitung, deren Recherche sich auf Hochrechnungen eines Straßenbauarbeiters bezieht, in Richtung Polizei geflogen sein. Mangels verlässlicher Statistiken ist zwar leider empirisch nicht zu belegen, ob die Quote höher lag als im vergangenen Jahr. Fest steht jedoch: So heftig wie am diesjährigen 1. Mai tobte in Kreuzberg schon lange keine Straßenschlacht mehr.

In jedem anderen Bundesland hätte der Innenminister nach derartigen Vorkommnissen zurücktreten müssen. Nicht so in Berlin. Kurz vor dem 1. Mai hatte Innensenator Eckart Werthebach seine so genannte neue Strategie vorgestellt. Die bestand darin, die traditionsreiche »Revolutionäre 1. Mai-Demo« um 18 Uhr schlicht zu verbieten und vierzig Hundertschaften der Polizei aus anderen Bundesländern anzufordern, um die ebenfalls traditionsreichen Kreuzberger Riots an diesem Tag wirkungsvoll zu verhindern. Tatsächlich ist das Verbot Bestandteil der von Werthebach schon vor einiger Zeit lancierten Kampagne für eine Einschränkung des Versammlungsrechtes in Berlin. Doch der Technokrat aus Westdeutschland erhielt die Quittung in Form der großen Randale.

In deren Anschluss verhedderten sich der Innensenator, der Polizeipräsident Hagen Saberschinsky und der Leiter der Schutzpolizei, Gernot Piesters, bei der Darstellung der Ereignisse rund um den Mariannenplatz in widersprüchlichen Aussagen. Angeblich habe man Gewalttäter isolieren und vom Park am Mariannenplatz, wo ein Sommerfest stattfand, fernhalten wollen. Doch militante Straftäter hätten sich unter die friedlich feiernden »Frauen und Kinder« gemischt und gewalttätige Aktionen gegen die Polizei angezettelt.

Schnell tauchten jedoch Filmaufnahmen der SFB-Abendschau auf, die eindeutig belegen, dass die Polizei nach kleineren Scharmützeln in den benachbarten Straßen alle Menschen aufforderte, sich in Richtung Mariannenplatz zu bewegen, wo sie zunächst unter Einsatz von Wasserwerfern zusammengetrieben wurden. Da der kleine Park jedoch für Fahrzeuge nicht zugänglich ist, rief die Polizei ihr Bodenpersonal herbei. Besucher des Festes, wie der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele von den Grünen, schilderten, wie kurze Zeit später Prügeltrupps der Polizei über das Festgelände stürmten und wahllos Menschen verprügelten - ohne jede Aufforderung, den Platz zu verlassen.

Zum Konzept der Sicherheitskräfte gehörten offenbar auch die spätestens seit dem so genannten Hamburger Kessel von 1986 als eindeutig rechtswidrig geltenden »Einschließungen«. So riegelte die Polizei den Mariannenplatz und die Straßen, die dorthin führen, sofort nach der Erstürmung hermetisch ab. Wer nicht schnell genug weggekommen war, wurde einfach vor Ort festgesetzt - insgesamt 450 Besucher des Festes, darunter Kinder und Rentner. 130 Personen wurden auf diese Weise sieben Stunden lang festgehalten.

Erst nach ein Uhr nachts verteilte die Polizei ein paar Decken, während die Heilsarmee die Verpflegung übernahm. Nach und nach brachte man die Gefangenen zur Sammelstelle an den Tempelhofer Damm, wo nach Aussagen von Betroffenen zeitweilig über 100 Wannen in einer Schlange standen und darauf warteten, die Festgenommenen der erkennungsdienstlichen Behandlung zuzuführen. Am frühen Morgen kam eine Anweisung, die »Maßnahme« zu beenden. Die meisten Gefangenen wurden daraufhin, nachdem man sie fotografiert hatte, einfach aus der Wanne entlassen. Lediglich drei der insgesamt 600 Festnahmen führten schließlich zu einem Haftbefehl. Doch für Eckart Werthebach bedeutet die »Maßnahme« eine Absicherung seiner Strategie gegen Kritik. 200 Festnahmen mehr als im vergangenen Jahr, rechtfertigt er sich seither, würden beweisen, dass der Einsatz nötig gewesen sei.

Begonnen hatte der 1. Mai in Berlin wie in so vielen anderen Städten mit einer Demonstration der Rechten. Denn anders als die Linken konnte die NPD gerichtlich abgesegnet und polizeilich bestens umsorgt am Vormittag durch Hohenschönhausen marschieren. Am Mittag startete dann, neben einer am Oranienplatz beginnenden Demonstration der maoistischen Revolutionären Kommunisten, auf dem Lausitzer Platz ein Protestzug gegen das Demonstrationsverbot. Anmelderin war die PDS-Bundestagsabgeordnete Angela Marquardt, Mitveranstalter waren der Landesverband der Jusos und die Grüne Jugend Berlin.

Doch nicht nur Bürgerrechtsgruppen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie riefen zum Lausitzer Platz, sondern auch alle Organisationen, die in den Jahren zuvor die 18-Uhr-Demonstration vorbereitet hatten. So fanden sich unter den rund 8 000 TeilnehmerInnen vor allem Autonome, Postautonome und Mitglieder der bei Werthebach besonders unbeliebten Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB). Überraschenderweise hielt sich die Polizei auffällig zurück, und die Demonstration verlief ohne den geringsten Zwischenfall. Sowohl die ABB als auch die Anmelderin Angela Marquardt bewerteten Werthebachs Versuch, eine 1. Mai-Demonstration der unabhängigen, radikalen Linken zu verbieten, schon zu diesem Zeitpunkt als gescheitert.

Das endgültige Scheitern von Werthebachs Strategie besiegelten jedoch die auf die Kreuzberger Demonstrationen folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei, weil sie den zentralen Denkfehler offen legten: Verbotenes hat seine Reize. Die Ereignisse vom 1. Mai dürften die Popularität des Innensenators bei der Kreuzberger Bevölkerung zudem nahe an den Nullpunkt gebracht haben. Denn während vor allem die Bewohner dieses Stadtteils, aber auch die linke Szene selbst, in den vergangenen Jahren immer weniger Interesse an den zum Teil recht willkürlichen Krawallen gezeigt hatte, stand dieses Jahr offenbar der ganze Kiez hinter den Steinewerfern.

So hatten diejenigen, die Wasserwerfer, Wannen und Fußtruppen der Polizei am Rande des Mariannenplatzes über eine Stunde lang ununterbrochen mit Pflastersteinen attackierten und brennbares Material entzündeten, ein begeistertes Publikum. Auf den einem Amphitheater gleichenden Treppen vor dem Künstlerhaus Bethanien würdigten über 2 000 Sympathisanten jede Angriffswelle gegen die Polizei mit tosendem Applaus.

Werthebach hatte ein Eigentor geschossen. Denn die weit über die von ihm so genannte gewaltbereite Szene hinausgehende Empörung galt der Tatsache, dass eine linke Demonstration verboten wurde, während Rechtsradikale und Neonazis unter Polizeischutz aufmarschieren konnten. Diese Gleichzeitigkeit repolitisierte den 1. Mai in Kreuzberg und erklärt sowohl die überaus breite politische Unterstützung für die von Angela Marquardt angemeldete Demonstration als auch die unverhohlene Zustimmung der meisten Anwohner zu den abendlichen Straßenschlachten.

Auf Unverständnis stieß Werthebachs Strategie auch bei der SPD und der Polizeigewerkschaft GdP. Verschiedene Gruppenleiter der Einsatzkräfte kritisierten sogar, ihre Einheiten seien »verheizt« worden. Die Grünen fordern inzwischen den Rücktritt des Innensenators. Einen kleinen Trost für Werthebach bietet jedoch der Blick in die Geschichte: Zum letzten Mal hatte 1923 ein Polizeipräsident in Berlin für ein Verbot der »1. Mai-Demonstration« gesorgt. Bei den folgenden Schießereien gab es 28 Tote. So betrachtet, ist ja alles recht gut ausgegangen.