Die neuen Kolonialbeamten

Von Weißrussland bis Sarajevo: Die Europäische Union dehnt ihr Sicherheitsregime gegen Flüchtlinge nach Südost- und Osteuropa aus.

Pünktlich zum amerikanischen Unabhängigkeitstag, am 4. Juli, soll die 21köpfige Zuwanderungskommission, die Innenminister Otto Schily vor einem Jahr installiert hat, ihre Empfehlung für eine neue Migrationspolitik abgeben. Die Grundlagentexte liegen bereits seit zwei Jahren vor, und die Schily-Kommission dürfte Folgendes verkünden: Mithilfe eines Punkte-Systems sollen pro Jahr 600 000 MigrantInnen ausgesiebt werden, die einen legalen Aufenthaltsstaus erhalten. 400 000 MigrantInnen sollen mehr oder weniger freiwillig abgeschoben werden. Nicht eine Liberalisierung, sondern ein Ausbau des Kontrollsystems bis in die Herkunftsländer steht also bevor.

Welche symbolische Geste ist nun damit beabsichtigt, dass die Schily-Kommission ausgerechnet den Unabhängigkeitstag für die Veröffentlichung erwägt? Jeffersons Erklärung von 1776 verband die Kritik an der monarchistischen Bürokratie mit der Verkündung von Menschenrechten. Der Plantagenbesitzer formulierte in der Präambel, dass alle Menschen von Geburt mit gleichen Rechten ausgestattet seien. Aber die Erklärung erwähnt nicht, dass auf den Plantagen und in den Haushalten afro-amerikanische SklavInnen arbeiteten. Das Stimmrecht war nur für die weißen Männer, nicht aber für die Frauen vorgesehen.

Der menschenrechtliche Gehalt, der dennoch der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung innewohnt, bezieht sich vor allem auf das Land ohne Grenzen. Die Immigration aus Europa ließ sich bestens mit der Eroberung des amerikanischen Westens verbinden. So war neben der Sklaverei und der Frauendiskriminierung das leere Land die Voraussetzung für diese Art von Menschenrechtsverständnis. Leer war das Land in den Augen der kapitalakkumulierenden Siedler und Plantagenbesitzer. In Wirklichkeit verdrängten sie die indianische Bevölkerung und dezimierten sie durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen.

Es ist der expansive Kurs, der für einen Vergleich mit der EU durchaus taugt und die Unabhängigkeitserklärung von 1776 zu einem aktuellen Dokument macht. Denn erstens wird die Ost-Erweiterung der EU als Zuwachs konzipiert, nicht als länderübergreifender Neuanfang. Und zweitens haben die Kriegspolitik und die Interventionen in Südosteuropa aus dem Balkan ein gegliedertes EU-Protektorat gemacht. Mit anderen Worten: Westeuropa hat neue abhängige Gebiete, die es durch ein mehrstufiges System von Regierungsbeauftragten, Beratern, Unternehmen, Think-Tanks und Nichtregierungsorganisationen zu verwalten sucht.

Die diskrete Gewalt

Warum nimmt die Migrationspolitik in diesem neuen Szenarium eine Leitfunktion ein? Die Migrationswissenschaften, die von jeher eine besondere Nähe zur Politikberatung aufweisen, haben bereits seit längerem ihrem Thema eine Schlüsselstellung im weltweiten Verhältnis von Reich und Arm zuerkannt, das jedes nationale Politikkonzept obsolet mache. Man nehme einen Satz von Johan Galtung: »Massenhafte Migration, massive Entwicklung oder massenhafte Tötungen: Wir haben die Wahl. Zu glauben, das gegenwärtige krasse Elend und die offenkundigen Ungleichheiten könnten fortdauern, ist nicht nur unmoralisch, vielmehr auch und vor allem - töricht!« Die Aggression und die Allmachtsphantasien, die hier der westlichen »Staatengemeinschaft« zugebilligt werden, könnten in dem Moment wirklichkeitsmächtig werden, da die EU aus ihrer Innenpolitik herausfindet und auf die Weltbühne tritt.

Die Migrationspolitik wird die parlamentarischen Kontrollfunktionen und die Legalitätsverhältnisse von Politik in einer Weise berühren, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Europa unbekannt und regelrecht vergessen war. Die Vertreter des Westens exekutieren in den abhängigen Ländern Normen und Vorgaben, die nicht aus den lokalen gesellschaftspolitischen Kontrollprozessen hergeleitet werden. Stattdessen wird für den Einsatz in den neuen »Schutzgebieten« einerseits die Protektion der Menschenrechte bemüht, und andererseits wird ein Doppelrecht ausgebildet. Während in der EU formale Rechtsverhältnisse herrschen, mit Rechtsmittelgarantien und Gewaltenteilung, walten die Entsandten in der Peripherie nach eigenem Ermessen.

Diese moderne diskrete Gewalt, die im Ausländerrecht und in der Notstandsgesetzgebung kodifiziert wurde, entstammte ursprünglich dem Zeitalter des Kolonialismus. Die Kolonialbeamten waren häufig lokal regierende Machthaber, Polizisten und Richter in einer Person. In den Jahren des deutschen Kolonialismus von 1883 bis 1918 unterlagen bis zu zwölf Millionen Menschen nicht etwa dem Strafgesetzbuch, das sich gleichzeitig ausbildete, sondern dem Verwaltungs- und Willkürrecht der Kolonialbeamten. Die Nilpferdpeitsche wurde zum Hauptkulturmittel der deutschen Zivilisatoren in den Kolonien, wie der Direktor der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1886 im Reichstag verkündete.

Mit welchen Befugnissen, Legitimationen und Handlungsspielräumen werden künftige EU-Grenzpolizisten nun bei einem permanenten Out-of-area-Einsatz in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo oder auch in Ostpolen ausgestattet?

Wenn man auf den Formationsprozess der EU im vergangenen Jahrzehnt zurückschaut, so kann man zunächst konstatieren, dass die Schengener Vertragsstaaten die Außengrenzen abgeschottet haben. Gleichzeitig hat ein gigantischer Zusammenschluss der Polizeikräfte nach innen stattgefunden, ablesbar am einheitlichen Schengener Informationssystem (SIS) und an der Arbeit, die die neuen gemeinsamen Polizeizentren länderübergreifend leisten.

In diesen Zentren, die in Grenznähe entstanden sind, arbeiten beispielsweise niedersächsische und niederländische, oder baden-württembergische, französische und Schweizer Polizisten und Grenzpolizisten zusammen.

Ungleiche Partner

Dieser Entwicklung dient auch die Zusammenarbeit der östlichen deutschen Bundesländer mit Polen und der Tschechischen Republik. Während in den Schengen-Staaten eine gewisse Regelungsdichte auch für diesen Bereich existiert, zeichnet sich das deutsch-polnische und deutsch-tschechische Verhältnis an Oder und Neiße und im Erzgebirge nach 1989 durch das Fehlen jeglicher Regelungen und eingeübten Praktiken aus.

Hier wurde erstmals die Deregulierung der internationalen Migrationspolizei versucht. Sie erfolgte ohne anweisende Vorschriften, ohne ausreichende Sprachenkunde und ohne gesamtpolitische Annäherungen. Zu den wichtigen Voraussetzungen dieser Konstellation gehört, dass es sich nicht nur um die einzige Grenze ohne frühere grenzübergreifende Kontakte handelt, sondern auch um die Grenze mit dem höchsten Einkommensgefälle auf der Welt. Deutschland baute sie nach 1990 zur am strengsten bewachten Grenze Europas aus.

Die Praktiken, die der BGS in den Grenzgebieten entwickelte, zielten von Anbeginn auf möglichst viele Zurückweisungen und Rückschiebungen. Unerwünschte Flüchtlinge und MigrantInnen überstellt der Bundesgrenzschutz (BGS) seitdem zu Zehntausenden jährlich an die beiden östlichen Nachbarländer. Wie ist es möglich, dass ein solches System der maximal denkbaren Asymmetrie funktionieren kann? Und dass ausgerechnet hier eine EU-Grenzpolizei außerhalb der EU entstehen konnte?

Möglich, dass die Kompensationszahlungen eine wesentliche Rolle spielten, die die Bundesregierung und später die EU an die beiden Nachbarstaaten für die Neuorganisation der dortigen Polizeiapparate überwiesen. Eine weitere Antwort ist darin zu suchen, dass den polnischen und tschechischen Grenzschützern mit den »Illegalen«, »Schleppern« und »Schleusern« nicht nur ein neues gemeinsames Feindbild vermittelt, sondern auch eine neue polizeiliche Praxis angeboten wurde: die Rückschiebung. Dieses Instrument wendet die Grenzpolizei gegenüber denjenigen an, denen jegliches Statusrecht, auch das auf Asyl, verweigert wird.

Innerhalb von 48 Stunden werden sie nach ihrer Festnahme über die Grenze zurückgeschoben. Sie haben keine Chance, Verwandte und Bekannte zu benachrichtigen, einen Anwalt einzuschalten. Sie sind der alleinigen Exekutionsmacht des BGS unterworfen. Nirgendwo im Landesinneren gibt es diese absolute Verfügungsmacht, diese Verwaltungsermächtigung.

Dieser Machtzuwachs ist offensichtlich der Faktor, der die ungleichen Partner vor, während und nach der Menschenjagd zusammenhält. Eine gemeinsame Kultur entsteht bei den Grenzpolizisten diesseits und jenseits der Schengener Außengrenze, nämlich die, zur europäischen Zivilisation zu gehören und grenzüberschreitend zu ihrer Sicherung beizutragen.

Gefährliche Klassen

Weitere Protagonisten des EU-Grenzschutzes sind die Verbindungsbeamten auf dem Balkan. BGS-Polizisten befinden sich seit dem Zusammenbruch des Staates in Albanien, seit dem Abkommen von Dayton in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien und schließlich seit dem Ende des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien im Kosovo. Dass sie sich dort der versteckten Flüchtlingsfahndung widmen, stellte sich bei Recherchen zum so genanten Irak-Plan heraus, den die Bundesrepublik Deutschland als ein Musterprojekt der vorverlagerten Flüchtlingsbekämpfung entwarf. Eines seiner Ziele ist die Zerschlagung der Fluchtwege vom und durch den Balkan. Der Krieg ums Kosovo ermöglichte eine zeitweilige Realisierung dieses Plans, die Flüchtlinge wurden in nahe gelegenen, von den Nato-Staaten eingerichteten Lagern untergebracht und aufgehalten.

Vor diesem Krieg beschworen die verschiedenen Polizeiorgane und Medien in immer schärferen Konturen eine Bedrohung, die vom Balkan ausgehe. Als Ursache der Unruhe galt nicht etwa die rassistische Diskriminierung oder die Politik der Ethnisierung, sondern die Emigration von Kriminellen. Waren es in der Bundesrepublik die Kosovo-Albaner, die pauschal des Drogenhandels verdächtigt wurden, so galten in Italien alle Albaner als hassenswerte Menschenhändler und Zuhälter.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es tatsächlich Drogenhandel und Prostituiertenausbeutung gibt. Hier interessiert aber die ethnisierte Stigmatisierung der gesamten Flucht und Migration aus denselben Gebieten, die zum Objekt polizeilicher und militärischer Gewalt von außen wurden. Es koexistieren die Bilder einer Bevölkerung, die generell gefährlich wird, wenn sie nach Westeuropa vordringt, und derselben Bevölkerung, die gänzlich zum Opfer wird, wenn sie auf dem Balkan bleibt.

Ihr Opferstatus ist konstitutiv für die »humanitäre Intervention« und eben auch für die Stationierung von Verbindungsbeamten des Grenzschutzes und anderer Polizeieinheiten, die verhindern sollen, dass Migration entsteht und dass Migranten sich bei ihrer Ankunft in Westeuropa in gefährliche Klassen verwandeln. Das ist der Kontext einer neuen westeuropäischen Menschenrechtspolitik, der die Menschenrechte als Begleitwerk eines Schutzanspruches in abhängigen Gebieten gelten.

Für Jugoslawien war Schengen nie ein Vorbild, auch existierten kaum Grenzkontrollen und erst recht keine massiven Grenzbefestigungsanlagen. Doch nach den Balkan-Kriegen drängte die entstehende Protektoratsverwaltung darauf, die ersten Staatseinnahmen aus dem Zoll an den Landesgrenzen zu gewinnen.

Die Sarajevo-Route

Der zögerliche Staatsaufbau in den südosteuropäischen Ländern begann mit der Trennung der Nachbarn, die sich seit der grenzpolizeilichen Überwachung nunmehr verfestigt. Heute ist in Bosnien-Herzegowina der neue Grenzschutz die einzige bedeutende Behörde des Gesamtstaats. Sie zählt gegenwärtig 2 600 Polizisten, geplant ist eine Aufstockung auf 3 500 Grenzwächter. Diese Behörde untersteht wiederum der UN-Polizei-Taskforce, in der der westeuropäische Einfluss entscheidend ist.

Zudem haben Verbindungsbeamte ihre Stellungen als so genannte Dokumentenberater und Koordinatoren auf Flughäfen und in Botschaften bezogen. Sie arbeiten auf der Grundlage weniger halbverbindlicher Texte, in denen keinerlei rechtliche Befugnisse festgelegt sind. Die Sorge der EU gilt vor allem der mangelnden Abstimmung der verschiedenen Apparate und Behörden untereinander.

Der BGS, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sind mit eigenen Beamten an diesem Regime beteiligt. Auf der EU-Ebene soll Cirefi, das Clearinghaus für die Überwachungsmaßnahmen der Außengrenze, die Koordination übernehmen.

Eine kohärente Strategie zum Aufbau einer EU-Grenztruppe in Ost- und Südosteuropa hat bereits eine Reflexionsgruppe 1998/99 unter dem Vorsitz des italienischen Ministerpräsidenten Giuliano Amato im Auftrag der EU-Kommission erarbeitet. Im Februar 2001 veröffentlichten Amato und der britische Regierungschef Tony Blair einen Aufruf zur EU-Integration der diversen westeuropäischen Grenzpolizisten. Diese sind bereits auf den Flughäfen Sarajevo und Mostar sowie an der bosnisch-herzegowinischen Grenze zu Kroatien stationiert, um die dort legal reisenden Flüchtlinge und MigrantInnen aus dem Nahen Osten und Asien aufzuhalten.

Eine Sarajevo-Route wollen Amato und Blair ausgemacht haben, die durch hohe Strafen für heimlichen Grenzübertritt und eine entsprechende Fahndung zerschlagen werden soll. So seien 50 000 Personen in den ersten zehn Monaten des Jahres 2000 illegal über Bosnien in europäische Länder eingereist, schreiben sie unter Berufung auf die UN-Polizei in Sarajevo, die sich aus dem BGS und anderen europäischen Polizeiorganen zusammensetzt. Seltsam, dass sich die Illegalen so einfach zählen lassen.

Die zukünftigen Auseinandersetzungen werden Aufschluss geben über die Fragilität der neuen Ordnung in den abhängigen Gebieten. Schon jetzt greift die Angst beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und beim Internationalen Roten Kreuz um sich, denn sie haben sich wie viele andere internationale Organisationen mehr oder weniger offen an die Seite der »humanitären Interventionen« gestellt.

Und ob die geografische Ausdehnung des Grenzregimes der EU, begleitet von einer kontrollierten Zuwanderungspolitik, die Flüchtlinge und MigrantInnen abhalten wird, darf bezweifelt werden. Alle bisherigen Versuche schlugen fehl. Den Zugang zu Existenzmitteln und zu Wohlstand kann man nicht verbieten, die Kämpfe und Auseinandersetzungen um die soziale Frage in einem vergrößerten Europa werden nicht auf sich warten lassen.

Der Autor ist Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM; www.ffm-berlin.de).