Gerhard Schröders Vater in 'BamS'

Kindergeschichten 2

Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben. Außer vielleicht, dass er der Kanzler ist. Im obersten Stock des Hauses hat er ein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer anderen Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, als die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind drei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, eine Couch und ein Schrank. Auf dem Tisch ein Wecker mit römischen Ziffern, ein alter Zinn-Aschenbecher, Notizzettel mit der Aufschrift »Der Bundeskanzler«, ein Streichholzbriefchen mit der Aufschrift »Bundeskanzleramt«, eine kleine Bronzeplastik, die ein springendes Pferd darstellt - eine Erinnerung an das Wappentier der Niedersachsen, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.

Der Kanzler machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinen Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Kanzler am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, und es flatterte ihm ein Brief ins Haus - Post von den »neuen« Cousinen. Ein paar Zeilen nur, dazu das kleine Foto von Vater Fritz, das vergilbte Schwarzweißfoto eines Soldaten mit Stahlhelm mit Hakenkreuz dran. Sein Grab war erst Mitte April in Rumänien entdeckt worden.

Der Kanzler lächelte.

»Jetzt wird sich alles ändern«, dachte er. Und er stellte das Foto in seinem neuen Büro auf den Schreibtisch direkt neben das Lord-Snowdown-Porträt von Ehefrau Doris. Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, drei Stühle, eine Couch. Und wie er sich wieder hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert.

Und den Kanzler überkam eine große Wut.

Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte.

»Es muss sich ändern, es muss sich ändern!«

Und er hörte den Wecker nicht mehr.

»Immer derselbe Tisch«, sagte der Kanzler, »dieselben Stühle, die Couch, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, die Couch heißt Couch, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?« Die Franzosen sagen der Couch »diwan«, dem Tisch »tabl«, nennen das Bild »tablo« und den Stuhl »schäs«, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

»Weshalb heißt die Couch nicht Bild«, dachte der Kanzler und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und »Ruhe« riefen.

»Jetzt ändert es sich«, rief er, und er sagte von nun an der Couch Bild.

»Ich bin müde, ich will in Bild«, sagte er, und morgens blieb er oft lange in Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wollte, und er nannte den Stuhl »Wecker«.

Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker, und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Stahlhelm. Am Morgen verließ also der Kanzler Bild, zog sich an, setzte sich an den Stahlhelm auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.

Der Zeitung sagte er Couch.
Dem Spiegel sagte er Hakenkreuz.
Dem Wecker sagte er Fotoalbum.
Dem Stahlhelm sagte er Zeitung.
Dem Hakenkreuz sagte er Stuhl.
Bild sagte er Tisch.
Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Also:

Am Morgen blieb der Kanzler lange in Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Kanzler stand auf, zog sich an, schaute in das Hakenkreuz an der Wand, setzte sich dann in das Fotoalbum an den Stahlhelm und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Doris fand.

Der Kanzler fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Stiefel, und der Stiefel war ein Morgen und der Morgen ein Mann.

Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie der Kanzler es machte, auch die anderen Wörter austauschen ...

Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte.

Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann sang er die Lieder aus Vaters Schulzeit leise vor sich hin.

Und stand in Bild und ging auf den Wecker.

(Peter Bichsel, Luchterhand 1969)