Iran vor den Wahlen

Tiananmen in Teheran

Am 8. Juni wird im Iran ein neuer Präsident gewählt. Die Spannungen zwischen den rivalisierenden Flügeln des islamischen Establishments wachsen.

Der Wahlkampf in der Islamischen Republik Iran kommt in Schwung. Am 8. Juni soll der neue Präsident gewählt werden, und die Spannungen im Gottesstaat wachsen. Am vergangenen Donnerstag überfielen nach Agenturmeldungen 15 Revolutionswächter der Pasdaran eine Versammlung der Iranischen Islamischen Beteiligungsfront, die dem so genannten liberal-reformistischen Flügel des islamischen Establishments zugerechnet wird, als sie auf einem Friedhof südlich von Teheran der Toten und »Märtyrer« aus dem Krieg gegen den Irak (1980 bis 1988) gedachte. Die Veranstaltung wurde vorzeitig abgebrochen. Das Spektakel um den Bruch zwischen so genannten religiösen Hardlinern und den Reformern der Diktatur geht in eine neue Runde.

Für die Präsidentenwahl hatten sich zunächst 817 Kandidaten beworben. Unter ihnen befanden sich auch 45 Frauen; allerdings betrieben sie ihre Bewerbung nur aus propagandistischen Gründen, denn nach der iranischen Verfassung, die offiziell als Widerspiegelung göttlichen Willens gilt, dürfen Frauen das Präsidentenamt gar nicht ausüben. Der Wächterrat, der von Klerikalen dominiert wird und eine Vorauswahl trifft, disqualifizierte 807 Kandidaten, und übrig blieb ein illustrer Haufen von zehn Männern.

Die besten Chancen werden dem amtierenden Präsidenten Mohammad Khatami eingeräumt, der Anfang der achtziger Jahre noch die »islamische Kulturrevolution« mitorganisierte und inzwischen als liberaler Reformer gehandelt wird. Erst am 4. Mai, zwei Tage vorm Ende der Frist zur Registrierung der potenziellen Kandidaten, hatte Khatami nach monatelangem Zögern seine erneute Kandidatur offiziell bekannt gegeben. »Die Reform kann nicht gestoppt werden, weil sie im Willen des Volkes verwurzelt ist«, erklärte er am Mittwoch vergangener Woche im staatlichen Fernsehen. Das klang schon lange nicht mehr so enthusiastisch wie seine Aufrufe zu einer Zivilgesellschaft aus dem Jahr 1997. Politische Kommentatoren gehen davon aus, dass Khatami die Wahlen erneut gewinnen wird, allerdings unter Stimmeneinbußen, denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass er wieder 20 Millionen Stimmen erhält wie am 23. Mai 1997.

Khatamis zugelassene Gegenkandidaten stammen überwiegend aus dem rivalisierenden Spektrum. Unter ihnen befindet sich Ali Fallahian, der acht Jahre lang als Informationsminister unter dem ehemaligen Präsidenten Haschemi Rafsandjani fungierte, sprich: als Geheimdienstminister. Wegen der Morde an vier Oppositionellen im Berliner Restaurant Mykonos im Jahr 1992 hat das Berliner Kammergericht Fallahian als Staatsterroristen bezeichnet; er wird für eine Serie von mehr als 100 Morden an iranischen Intellektuellen und Politikern in den neunziger Jahren verantwortlich gemacht.

Zugelassen wurde auch Ali Schamkhani, der gegenwärtige Verteidigungs- und Logistikminister unter Khatami. Er ist berüchtigt für die Niederschlagung der »konterrevolutionären« Aktivitäten während der Revolution von 1979, war Offizier der Pasdaran-Miliz und gilt mittlerweile als liberal. Der vierte wichtige Kandidat ist Ahmad Tawakol, der Anfang der achtziger Jahre bereits als Arbeitsminister in der Regierung Mussawi saß. Er will eine »zweite islamische Republik«, d.h. einen Macht-, aber keinen Systemwechsel.

Mit der Präsidentschaft Khatamis und einem Übergewicht von etwa zwei Dritteln der Sitze in der Madjlis, dem Parlament der Islamischen Republik, scheinen die so genannten Reformer bedeutende Machtpositionen innezuhaben. Aber in Wirklichkeit sind diesen Institutionen einige Ebenen der Macht übergeordnet. An der Spitze steht der nicht gewählte religiöse »oberste Führer«, zurzeit Ali Khamenei, der als konservativer Hardliner gilt. Die Macht des »Führers« wird von weiteren Institutionen gestützt, insbesondere vom Schlichtungsrat und vom Wächterrat, der u.a. die Kandidatenauslese für die Präsidentschaft und das islamistische Parlament vornimmt. Erst darunter rangieren der Präsident und schließlich das islamistische Parlament. Im Übrigen sind Justiz und Sicherheitskräfte in den Händen der so genannten Hardliner.

Die Diskussionen innerhalb der Machtpyramide erinnern an andere zerfallene oder vom Zerfall bedrohte Systeme, wobei Khatami, auch in westlichen Medien, als »iranischer Gorbatschow« gilt. Vor den Wahlen erklärte Mohammad Kermani, ein so genannter Hardliner und Vertreter Khameneis bei den Pasdaran, die liberalen Reformkräfte realisierten Schritt für Schritt das Programm zur Zersetzung der Islamischen Republik; mit einem ähnlichen Programm habe der Westen die Sowjetunion zerstört.

Gorbatschow habe mithilfe amerikanischer Propaganda der Bevölkerung versprochen, er werde sie befreien. Ein kultureller Austausch habe die westliche Dekadenz in die Sowjetunion importiert. Später habe Boris Jelzin das imperialistische Programm fortgesetzt, bis die Sowjetunion zerfallen sei. Einen solchen Plan, so Kermani weiter, hätten die Amerikaner und ihre Agenturen - zu denen, wie Khamenei bereits angemerkt habe, ein Teil der im Iran verbotenen Zeitschriften und Zeitungen zähle - auch für den Iran vorbereitet. Im Übrigen befürwortete er die »chinesische« Vorgehensweise gegenüber protestierenden Studenten und meinte das Tiananmen-Massaker von 1989.

Demgegenüber argumentierte die offiziell verbotene, nationalreligiöse Nehsate Asadi (NA, Freiheitsbewegung) von Mehdi Bazargan mit den Fehlern des russischen Modells. In einer Erklärung von Mitte Mai trat sie für Reformen innerhalb der Islamischen Republik ein, diskutierte erneut die Parallelen zu China und Russland und verglich die so genannten Hardliner mit der chinesischen Regierung. Die Islamische Republik müsse die Fähigkeit zur Reform entwickeln, denn der Mangel an Reformen habe in der Sowjetunion zum Kollaps des Systems geführt. Daher müssten Reformen so früh wie möglich durchgeführt werden und nicht erst, wie unter Gorbatschow, in einer zu späten Phase. Der Iran solle weder die chinesischen noch die sowjetischen Fehler wiederholen.

Für eine modernisierte Fassung der islamischen Diktatur optiert letztlich auch ein Teil der verbotenen Opposition. So schreibt die ehemals moskau-orientierte Tudeh-Partei in einer im Mai veröffentlichten Erklärung, dass sie zwar nicht einverstanden sei mit den Vorstellungen Khatamis von der islamischen Zivilgesellschaft, in der sie selbst keinen Platz finden würde, und von den Freiheiten innerhalb des »Regimes des Welayate Fagih« - der Herrschaft der Rechtsgelehrten -, die er verspricht; dennoch plädiert die Tudeh-Partei dafür, Khatami erneut zu wählen.

Sie setzt damit ihre Politik fort, die seit über zwanzig Jahren die Islamische Republik unterstützt. Ähnlich argumentieren auch ihre Jugendorganisation, die Fedajin-Mehrheit, und die iranischen Republikaner, die Khatami aus taktischen Gründen, sozusagen als das kleinere Übel, unterstützen.

Ausdrücklich haben jedoch die »demokratische Front der iranischen Bevölkerung« und die meisten kommunistischen Organisationen zum Wahlboykott aufgerufen. Die islamischen Volksmudjaheddin kämpfen weiter mit militärisch Mitteln gegen das Regime.

Bislang konnte Khatami die Hoffnungen seiner Anhänger auf gesellschaftliche Veränderungen nicht erfüllen. Nach den Morden an Politikern und Schriftstellern im Herbst 1999 forderte er zwar zunächst eine Untersuchungskommission, gab sich aber zufrieden, als die Justiz die Köpfe einiger untergeordneter Beamter des Sicherheitsdienstes rollen ließ. Als die Studentenbewegung im Sommer des letzten Jahres zerschlagen wurde, rief er zur Ruhe auf. Schließlich sei die Universität ein Ort der »Weisheit«.

Hunderte Studenten sind immer noch inhaftiert. Mehr als 45 Zeitungen und Zeitschriften wurden in seiner Amtszeit verboten. Mehr als 40 Journalisten und mindestens 65 Mitglieder der nationalreligiösen Bewegung sitzen nach Angaben der Internationalen Föderation der Ligen für Menschenrechte in iranischen Gefängnissen. Mitte Mai wurden mehr als 400 Internetcafés geschlossen. Und in der vergangenen Woche wurde eine Frau gesteinigt, weil sie vor acht Jahren in einem Pornofilm aufgetreten sein soll.